IMPRIMATUR 2023 (NF XXVIII)

„Das ist ein weites Feld“, würde wohl Effi Briests Vater sagen, wenn er anhand des Imprimatur-Jahrbuches der Gesellschaft der Bibliophilen beschreiben sollte, was das thematische Spektrum der Bibliophilie alles umfasst. Und mit diesen Worten beginnt auch, nicht zufällig, meine ich, das gemeinsame Vorwort der (neuen) Herausgeberin Prof. Viola Hildebrand-Schat und der Ersten Vorsitzenden der Gesellschaft der Bibliophilen, Dr. Annette Ludwig. Mit einer einfachen Definition, wie sie eigentlich alle buchinteressierten Menschen im Alltag verwenden und die Wörter wie Buch, Text, selten, schön, wertvoll usw. enthielte1), käme man allerdings dem inneren Zusammenhang der Beiträge dieses Jahrbuchs auf den ersten Blick nicht auf den Grund. Dank des knappen und präzisen Vorworts der Herausgeberinnen erschließt es sich dann doch.

Das Jahrbuch 2023 umfasst dreizehn Beiträge, die in vier Gruppen eingeordnet werden: Bücherinstitutionen, Künstlerbücher, Typografie und Schrift sowie Lesen und Leseverhalten. In den Beiträgen werden geografisch gesehen viele Städte und Länder angesprochen: von Deutschland Ost und West, Frankreich, Russland bis nach USA. (Als Frankfurterin freue ich mich natürlich darüber, dass sich zwei der Beiträge auf Orte bzw. Personen in Frankfurt beziehen und dass auch zwei Verfasserinnen hier leben und arbeiten.) Zeitlich gesehen, beschreiben die Beiträge Bibliophiles vom 16. Jahrhundert an und reichen bis in die unmittelbare Gegenwart. Auch die Auseinandersetzungsweisen und die Präsentationen sind sehr vielfältig. Neben den üblichen Berichten über eigene Forschungsergebnisse und Werkdarstellungen gibt es auch solche über eigene Arbeitsformen und über subjektive Wahrnehmungen und Erlebnisse der Autoren und Autorinnen mit den dargestellten Objekten oder Personen.

Auf knappem Raum ist es nicht möglich, allen Beiträgen gerecht zu werden. Daher habe ich mich entschlossen, nur auf zwei näher einzugehen, und zwar weil mich das behandelte Thema bzw. die erörterte Fragestellung in diesem Kontext besonders überrascht hat.

Im ersten Komplex mit dem Titel Bücherinstitutionen war das der Beitrag der neuen Herausgeberin Viola Hildebrand-Schat mit dem Titel Charms Kabinett: Verlag, Bibliothek und Installation. Ein Beispiel von Bibliophilie der zeitgenössischen russischen Kunst.

Daniil Charms, ein russischer Schriftsteller und Künstler der Avantgarde, erlebte in seinem kurzen Leben, das im Revolutionsjahr 1905 in St. Petersburg begann, die Oktoberrevolution, zwei Kriege, viele politische Umstürze und Wendungen und entsprechend eine rasante Kunst- und Literaturentwicklung mit vielen heterogenen, sogar widersprüchlichen Strömungen vom Jugendstil und Symbolismus bis hin zum russischen Futurismus und dessen abstrakten und dennoch eindeutig provokanten Elementen. Charms bewegte sich künstlerisch in vielen fortschrittlichen Künstlergruppen und Komitees und war an der Gründung anderer maßgeblich beteiligt. Nach dieser hoffnungsvollen Anfangszeit wurde Charms immer häufiger Opfer des zunehmend totalitären Staates, konnte fast nichts mehr veröffentlichen, erlebte politische Kritik, Anschuldigungen, Verhaftungen, zuletzt eine Einweisung in die Psychiatrie, wo er 1942 vermutlich während der Blockade seiner Heimatstadt verhungerte.

Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurde sein Werk wieder einer größeren Öffentlichkeit bekannt und seine Bedeutung für die literarische und künstlerische Moderne anerkannt. Im Zug dieser neuen Wertschätzung spielte sein sogenanntes Kabinett eine große Rolle, das Sergej Jakunin anlässlich des 100. Geburtstags von Charms für ihn einrichtete. Charms konnte sein Leben lang keinen Ort für sich allein beleben, sondern lebte stets in einer Kommunalka, einer Gemeinschaftswohnung, die sich viele Menschen teilen mussten und die kaum Möglichkeiten für ein Privatleben im engeren Sinn ließ. Versuche, Charms Kabinett (das Wort bedeutet im Russischen eigentlich Arbeitszimmer) darzustellen, gab es bereits früher, so auf der Bühne, z. B. als Schrank, in und auf dem sich alles verstauen ließ, was Charms als Künstler, aber auch als Mensch gebraucht hätte. Anspielungen auf Charms’ Kunst und Literatur spielen dabei ebenso eine Rolle (so sein bekannter Auftrittssatz 1928, dass die Kunst ein Schrank sei, und andere Zitate) wie rätselhafte Installationen u. a. Jakunin versuchte dabei, nicht nur Charms’ Kreativität und ihren Quellen mit seinen multimedialen Ansätzen auf die Spur zu kommen, sondern bei den Betrachterinnen und Betrachtern kreative Prozesse anzuregen. Charms’ Kabinett wird somit vom Objekt zur Methode, die Jakunins gesamtes Schaffen prägt, seien es Installationen, Bühnenbilder, kinetische Apparaturen, Bücher aus verschiedensten Materialien (neben „normalem“ Papier vor allem Verpackungsmaterial, Geschenkpapiere, Briefumschläge, Packpapier, Pappmaché, aber auch Stofffetzen, Holz usw.). Neben Büchern entstehen immer wieder auch Koffer (auch das ein häufiges Motiv Charms`) aus unterschiedlichen Materialien und mit unterschiedlichen Inhalten. 

Abschließend stellt die Autorin Arbeiten vor, die Jakunin – inzwischen in Deutschland lebend und arbeitend – in der Emigration und vor dem Hintergrund des Überfalls Russlands auf die Ukraine geschaffen hat und die auch neue Bestandteile einbeziehen, die von geflüchteten Verwandten und anderen Personen stammen, z. B. Pappen mit großem IKEA-Logo, wo Flüchtlinge sich oft mit ersten Grundelementen versorgen, wodurch die neuen Werke insgesamt deutlicher auf aktuelle politische und gesellschaftliche Gegebenheiten hinweisen. Mit den Erläuterungen zu Jakunins Arbeiten in letzter Zeit unterstreicht die Autorin die veränderte, erweiterte, vielleicht sogar ästhetisch gänzlich unterschiedliche Wahrnehmung von Künstlerbüchern, die den ehemals engen oder zumindest immer mitbedachten Bezug zum Text zunehmend erodieren und die durch ihre ästhetische Gestaltung, die verwendeten Materialien, die durch sie evozierten Zitate usw. zum völlig eigenständigen und disziplinunabhängigen Genre werden.

Auch der zweite Beitrag, den ich genauer darstellen möchte, hat auf den ersten Blick nur indirekt etwas mit einem Buch zu tun; auch hier ist es eigentlich ein Schrank, der das Thema vorgibt, ein realer Schrank, nämlich Der bürgerliche Bücherschrank, mit dem sich Mike Rottmann auseinandersetzt. Diese Art des Schrankes gewinnt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend Bedeutung, wird dann sogar unentbehrlich: der freistehende Bücherschrank in den Bibliotheken bzw. Arbeits- oder Herrenzimmern bürgerlicher Häuser. Der Autor beschreibt anhand von Möbelkatalogen, wie man heute sagen würde, Zeitungsanzeigen, Tischlervorzeichnungen u. a. die zunehmend raffinierter und aufwendiger werdende neue Handelsware, um die sich Kunsttischler und Designer bemühen, und die außer ihrer Funktion für Leser und Sammler als praktischem Aufbewahrungsort für Bücher auch immer mehr zum Repräsentations- und Dekorationsobjekt für wohlsituierte Bürger werden, auf deren Kultiviertheit und Bildung sie hinweisen sollen.

Als Exlibrissammlerin kenne ich zahlreiche Exlibris, auf denen der Hausherr seine Bibliothek und damit seine gesellschaftliche Stellung durch einen übervollen Bücherschrank beweist, auf dem meist noch die Statuen antiker und klassischer Geistesgrößen, ein Globus und anderes Platz finden. Andererseits wird, so weist der Autor nach, im Verlauf der Geschichte dieses Möbelstücks auch die Tatsache kritisiert, dass dieser Bücherschrank letztlich „leer“ sei, da er nicht die Individualität seines Besitzers widerspiegele, sondern vielmehr überall in ähnlicher, wenn nicht sogar gleicher Weise gefüllt worden sei, angefangen von ein paar unverzichtbaren Klassikern bis hin zu unsystematisch zusammengetragenen Romanen und Fachbüchern. Mike Rottman weist durch viele (auch literarische) Zitate auf, wie und warum auch diese Kritik an diesem Möbelstück entstanden sei. Viele dieser Zitate bereiten großes Lesevergnügen, z. B. dass es sich nicht schicke, wenn der Weinkeller voller sei als der Bücherschrank (S. 277) u. a. m. Rottmann zeigt durch die ausgewählten Abbildungen und geschickt eingesetzte Zitate, wie der unverzichtbare Bücherschrank seinen angestammten Ort, die Bibliothek, verließ und im Salon, also dem Raum, in dem man sich auch für Fremde zur Schau stellte, seinen festen Platz zwischen Esstisch und Sofa erhält und schließlich in der Biedermeierzeit auch das Leben in behaglicher und gebildeter Bürgerlichkeit symbolisiert. Zunehmend findet neben den ererbten Klassikern und dem Conversationslexikon auch die Gartenlaube ihren Platz darin. Immer wieder wird in der Literatur des 19. Jahrhunderts die Frage diskutiert, ob der Besitz eines Bücherschranks wirklich als Beweis für die Bildung des Bücherschrankbesitzers gelten könne. Besonders interessant ist, dass Rottmann auch mit manchen diesbezüglichen Vorurteilen aufräumt. – Etwas von dieser Kritik an der veränderten Funktion des ursprünglich die Aufklärung repräsentierenden Möbelstücks findet sich – in nicht wissenschaftlicher, aber sehr ironischer Form – in Shaws Komödie Arms and the Men (deutsch: Helden), mit der ich dem Autor ebenfalls etwas Spaß machen möchte.2)

Abschließend möchte ich mich bei den Autoren und Autorinnen der restlichen nicht angesprochenen elf Beiträge entschuldigen, die mich und bestimmt alle Leserinnen und Leser des neuen Imprimatur-Bandes auf viele neue Überlegungen und Zusammenhänge gebracht haben und die sich teilweise ebenfalls an sehr erweiterte Inhalte des bibliophilen Sammelns und Forschens gewagt haben, teilweise aber auch durch detailgenaue und sorgfältige Recherchen im Bereich tradierter Sammelgebiete deren weiter bestehende Relevanz unter Beweis gestellt haben.

Als wichtigen Teil meiner Buchbesprechung füge ich das vollständige Inhaltsverzeichnis im Anhang an.3)

Das Buch wird auch nach dieser Rezension noch nicht in meinem überfüllten Ikea-Bücherregal im Arbeitszimmer verschwinden. Mehr kann man einem Buch nicht wünschen.

(Ulrike Ladnar)

Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde. Neue Folge 28. Hrsg. v. Viola Hildebrand-Schat. Wiesbaden: Harrassowitz 2023. 314 S., 130 Abb., 6 Tabellen. 17 x 24 cm. Halblederband. 119 Euro

Anmerkungen:

1) Als Bibliophilie (von altgriechisch βιβλίον biblíon „Buch“ und φιλία „Freundschaft, Liebe“; also „Liebe zum Buch“) bezeichnet man allgemein das Sammeln von schönen, seltenen oder historisch wertvollen Büchern, meist durch Privatpersonen zum Aufbau einer Privatbibliothek nach bestimmten Sammelkriterien. (Wikipedia, am 28.09.2023)

2) Raina, die Tochter eines bulgarischenen Majors, versteckt einen vermeintlich einfachen feindlichen Soldaten, um ihm das Leben zu retten. Sie will den ausländischen Gegner dabei durch ihre kulturelle Überlegenheit beeindrucken, was die folgende Szene aus dem 1. Akt zeigt:

„Raina: Wissen Sie, was eine Bibliothek ist?

Der Flüchtling: Eine Bibliothek? Ein Zimmer voll Bücher?

Raina: Ja, wir haben ein solches, das einzige in ganz Bulgarien.

Der Flüchtling: Wahrhaftig? Ein wirkliches Bibliothekszimmer? Das möchte ich aber gerne sehen.“

Im 3. Akt bekommt der Flüchtling, ein reicher Schweizer Hotelier, die Bibliothek dann zu Gesicht: „Nach dem Mittagessen in der Bibliothek. – Nicht viel darin berechtigt zu dieser Bezeichnung. Die literarische Einrichtung dieses Raumes besteht bloß aus einem einzigen Bücherbrett, das mit alten ungebundenen, zerrissenen, kaffeebefleckten und mit Daumenabdrücken versehenen Romanen angefüllt ist. Ferner ein paar hängende Wandetageren mit einigen Geschenkbänden. Die andern Wände sind mit Jagd- und Kriegstrophäen bedeckt, es ist im übrigen ein äußerst behagliches Wohnzimmer.“

3) Inhaltsverzeichnis:

Bücherinstitutionen

Karl-Heinz Fallbacher: Die Gründungsgeschichte des Reclam-Verlags in Stuttgart (1947–1953)
Viola Hildebrand-Schat: Charms Kabinett: Verlag, Bibliothek und Installation
Eva Linhart: Das Verlegen lieben: Walther Königs Künstlerbücher ausstellen

Künstlerbücher

Christoph B. Schulz: Sonia Delaunays buchkünstlerisches Werk

Reinhard Grüner: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland … Es war ein Traum.“ Künstlerbücher ostdeutscher Künstler

Christine Schwitay: Die Entdeckung des Buchraums: Zur Inszenierung der Frauenfigur in Pierre Bonnards Malerbüchern

Ein Buch stellt sich vor: Robbin Ami Silverberg: Just 30 words

Typografie und Schrift

Silvia Werfel: Herrn Schumacher Geblers Gespür für Schrift. Ein Fall von Typophilie

Kirsten Solveig Schneider: Günter Gerhard Lange und die Bedeutung seiner Forschungsbibliothek

Anneke de Vries: Sündigen gegen die Regeln der Typografie: H. N. Werkman und sein Turkenkalender 1942

Lesen und Leseverhalten

Beatrice Alai: „Diese Denkmale den Forschern und Liebhabern zu erschließen“: Die illuminierten Einzelminiaturen-Sammlungen in Frankfurt am Main

Mike Rottmann: „Bücherschränke […] bestimmten die Atmosphäre, bezeugen Bildung“: Der bürgerliche Bücherschrank

Heinz Bonfadelli: Lesen und politische Kultur

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