Das Exlibris des Monats September anlässlich des Antikriegstags am 1. September ist eine Radierung von Louis Titz, einem sehr renommierten belgischen Künstler, der neben ca. 90 Exlibris viele Grafiken und Gemälde geschaffen hat. Geboren ist der Sohn des Landschaftsmalers Henri Titz im Jahr 1859 in Brügge, gestorben 1932 in Brüssel, wo er an der Akademie der Schönen Künste (Académie royale des Beaux-Arts) Malerei studiert hatte. Brüssels Straßen und Plätze, imposante Kirchen und Gebäude faszinierten ihn ebenso wie die kleinen Gassen und Eckchen der Stadt und motivierten ihn zu immer neuen Stadtgrafiken und Stadtaquarellen. Daneben widmete er sich auch Landschaftsbildern; beliebt waren auch seine Frauendarstellungen in unterschiedlichen Techniken. In der Stadt, die ihn sein Leben lang inspiriert hat, wurde er 1898 Professor an der Akademie der Schönen Künste und später Direktor der renommierten Schmuckschule (Ecole de bijouterie). Er war außerdem Mitbegründer und Ehrenpräsident der ABCDE (Asssociation Belge des Collectionnneurs et Dessinateurs d`Exlibris).
Während des Ersten Weltkriegs wandte sich Titz thematisch intensiv dem Krieg zu; er radierte immer wieder minutiös Stätten, an denen der Krieg ge-tobt hatte. Dabei gelangen ihm beeindruckende Radierungen,, die auch heute, gut 100 Jahre nach ihrer Entstehung, noch davon zeugen, welche Grauen durch den Krieg entstanden sind und immer noch entstehen, wie ganze Städte und ihre in vielen Jahrhunderten durch menschliche Visionen und Arbeit entstandenen Strukturen und architektonischen Merkmale verschwin-den und sich nur noch als Ruinen zeigen: seien es einstige Rathäuser, Kir-chen, Hotels, Cafés oder schöne Wohnhäuser. Besonders eindrucksvoll ist die Mappe Six Ex-Libris de ruines gravés d‘apres nature, die er 1919 in nur 50 Exemplaren herausgegeben hat. Auf den Exlibris dieser Mappe wird das, ohne dass Titz etwas hinzufügt, ohne dass er das Grauen mystifiziert oder symbolträchtig ausschmückt, an sechs Beispielen veranschaulicht. Kein Mensch ist zu sehen und seine geliebten belgischen Städte sind nur noch an zufällig stehengebliebenen Relikten zu erkennen: an den Überresten des Querschiffs einer Kirche, an der kaum entzifferbaren Inschrift eines Cafés, an ein paar erhalten gebliebenen Rundbögen einer Kirchenruine usw. Die schüt-zenden Dächer und Mauern der ehemaligen zentralen Orte einer Stadt sind sozusagen verschwunden, werden dadurch durchsichtig, so dass man dahin-ter andere Mauern und Wände sieht und den Himmel dahinter, es sind klare, minimalistisch gestaltete Konturen der Anklage mit höchstens ein paar Stei-nen und Trümmern am unteren Bildrand, als wäre die ganze Welt verschwun-den, die Natur, die Flüsse, die Wolken, die Bäume (nur auf einem der 6 Blätter steht ein kahler hoher Baum im Mittelpunkt), Menschen und Tiere.
Titz erweist sich hier wie auch in seinem sonstigen, technisch perfekten und vielfältigen Werk zunehmend als großartiger realistischer, fast naturalisti-scher Künstler, der durch das Festhalten und behutsame Ins-Bild-Setzen der Wirklichkeit, die er um sich herum vorfindet, durch das auf den ersten Blick bloße „Abbilden“ also, Aussagen trifft, die bis heute ihre Wirkung nicht verlo-ren haben.
Trotzdem habe ich für den September keines dieser großartigen Blätter aus-gewählt, sondern eines, das formal und inhaltlich untypisch für die sonstigen Kriegsblätter von Titz ist. Geschaffen hat er es für seine Frau Constance, eine begeisterte und kenntnisreiche Exlibris-Liebhaberin und -Sammlerin, die mit vielen anderen Künstlern in engem Kontakt und Austausch stand.
Das Exlibris ist mit 95 mm x 55 mm recht klein und man sieht darauf auf den gesamten unteren drei Vierteln des Blattes eine sehr verwirrende Überfülle von überwiegend nicht identifizierbaren Objekten, die sich nur durch eine vorangegangene Katastrophe erklären ließe, vielleicht auch einem Albtraum entstammen könnte.
Teilweise erkennt man nicht, was diese Objekte eigentlich sind, wofür sie da waren und was sie vielleicht einmal vor dieser Katastrophe waren und wel-che Funktion, welchen Nutzen sie gehabt haben mögen. Von oben nach un-ten betrachtet, weist die obere Hälfte kaum Konturen auf. Rechts assoziiert man eher Natur- und Landschaftselemente: einen Park, vielleicht auch einen Wald. Doch stimmt das? Denn am rechten oberen Rand des Bildteils scheint sich vielleicht doch ein Turm zu erheben. Links sind eindeutig eher Reste einer ehemaligen Stadtarchitektur zu sehen, einige Mauern stehen noch, ein Turm vielleicht auch hier, der aber ein Gesicht zu haben scheint und wie der Rest einer riesigen Statue anmutet. Sehr auffallend ist rechts unter ihm, ei-nem Naturelement zuzuordnen, etwas Längliches, Weißes auszumachen, ein weißer Gebäuderest oder ein Türeingang vielleicht, der aber ebenfalls eine Statue gewesen sein könnte. Geht der Blick weiter nach unten und folgt er den von oben herunterstürzenden und -rollenden Steinen und Mauerbrocken, über schützende Holzzäune hinweg, hinter denen aber nichts Schützenswer-tes mehr zu erkennen ist, dann bleibt er erschrocken über dem Anblick an einer großen Kinderwiege hängen, die noch Reste der geflochtenen Liege-fläche und sogar noch eine darauf liegende Wolldecke erkennen lässt. Nein, auch auf diesem Blatt sind keine Menschen zu sehen, aber Titz setzt in den oberen Bildteil, den Himmel, unter die Worte EX-LIBRIS DE CONSTANCE TITZ POUR 1914 (die Jahreszahl ortet das Dargestellte eindeutig als Moment ei-nes von Menschen verursachten kriegerischen Geschehens und eben nicht einer Naturkatastrophe) noch den bewegenden Satz: L’ENFANT NE FUT PAS RETROUVÉ (Das Kind wurde nicht wiedergefunden). Derartige sprachliche Unterstützungen eines Bildmotivs finden sich auf den – soweit mir bekann-ten – Exlibris von Louis Titz nicht häufig.
Die gesamten demolierten Bruchstücke einer Welt, einer Stadt, einer Familie werden hier zu Zeugen nicht nur für die Brutalität des Krieges, sondern ak-zentuieren auch die Tragödie menschlicher Schicksale, die selbst unschuldi-ge Kinder nicht verschont. Das Kind, dessen Geschichte Louis Titz auf sei-nem Exlibris erzählt, hat wahrscheinlich Sekunden vorher in einem umzäun-ten Garten in seiner Wiege geschlummert und sich vielleicht an der Sonne und dem Vogelgesang erfreut, vielleicht auch geträumt.
Das Exlibris gibt uns ein nachhaltiges Zeugnis vom Krieg aus Belgien, einem der vielen in den Ersten Weltkrieg hineingezogenen Länder. – Wie bekannt, hat das deutsche Kaiserreich am 4. August 1914 mit 800 000 Soldaten ohne Kriegserklärung die belgische Grenze durchbrochen und durch diesen Über-fall den Ersten Weltkrieg begonnen. Der Erste Weltkrieg dauerte 4 Jahre; 17 Millionen Menschen verloren dabei ihr Leben: 10 Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten.
Dass heute bei uns am 1. September der Antikriegstag begangen wird, hängt allerdings nicht mit dem Ersten, sondern mit dem Zweiten Weltkrieg zusam-men. Auch dieser Krieg begann mit einem Überfall auf ein anderes Land: Diesmal war es der Angriff auf Polen im Jahre 1939 durch Hitler-Deutsch-land. – Dieser Krieg dauerte sechs Jahre, 70 Millionen Menschen starben; 6 Millionen Juden wurden systematisch ermordet. Das neutrale Belgien erfuhr bekanntlich übrigens im Mai 1940 erneut einen völkerrechtswidrigen Angriff durch die Deutschen.
Der Krieg, an den wir am diesjährigen Antikriegstag wohl besonders intensiv denken, ist der Krieg in der Ukraine, ebenfalls durch einen völkerrechtswidri-gen Angriff auf ein benachbartes Land ausgelöst: die russische Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022.
Dieser Krieg dauert immer noch an. Die (bisherigen) Opferzahlen sind noch nicht bekannt.
Was uns das über hundert Jahre alte Exlibris von Louis Titz über den Krieg und seine Folgen mitteilt, ist bis heute gültig. Die eingesetzten Waffen mö-gen sich ändern, auch die Berichterstattung darüber aufgrund der jeweils vorrangig genutzten Medien (der Zeitungen vor allem im Ersten Weltkrieg, des Radios als wichtiger Informationsquelle im Zweiten Weltkrieg, des Fern-sehens und vor allem der vielen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten heute), nicht aber ändern sich die Folgen eines Krieges: Leid und Tod.
Ulrike Ladnar