Warum von den vielen Exlibris, die ich mittlerweile kennengelernt habe, gerade dieses mich nicht loslässt? Vielleicht, weil ich nicht sicher bin, ob ich es völlig verstehe. Dabei hatte ich es auf den ersten Blick, leichtfertig genug, sofort thematisch eingeordnet, als die wohlbekannte Szene aus dem Fundus der Mythologie: Ein Frauenkörper, dazu ein riesiges Flügeltier, das sich ihr auf höchst verdächtige Weise nähert, das kann ja nur die Leda mit dem Schwan sein. Aber beim zweiten und dritten Blick stellte sich immer mehr Staunen ein, Verwirrung – und Verzauberung.
Eine Leda? nein – oder -? Eine Mädchengestalt, nackt, aber ihrer Anziehungskraft offenbar nicht bewusst, die schmalen Beine geschlossen. Mit wehendem Haar, den Kopf leicht geneigt – eine Verwandte von Botticellis Venus? Auch sie wird vom Wasser herangetragen, doch es scheint, dass sie vielmehr emporgleitet aus den weißen Wirbeln, die über der Tiefe mit Perlen spielen. Eine Schaumgeborene auch sie – ja sie erscheint geradezu durchsichtig vor dem Dunkel, das sie umgibt, schimmernd, als wäre sie selber aus Wasser.
Und der wilde Vogel? Der enttaucht ebenfalls der Gischt, sein Gefieder aber ist nicht schwanenweiß, sondern rot! flammend, möchte man denken – eine Art Phönix? –, der kommt in leidenschaftlicher Bewegung angebraust, man hört es förmlich, bricht ein in die Dunkelheit des still dastehenden Mädchens, vielleicht in ihr Warten? Sollte sich doch Jupiter in ihm verbergen, und was hier dargestellt ist, wäre eine Allegorie des ewig Männlich-Weiblichen?
Jedoch: Die Begegnung verläuft nicht so, wie wir es von unzähligen Bildern her kennen und erwarten. Sie berühren sich nicht einmal, die beiden Wesen. Aber ganz nahe sind sie sich, in all ihrer Verschiedenheit, und dabei sind sie – oder werden sie? – einander seltsam ähnlich. Der gebogene Schwanenhals, die fast überschlanken Mädchenarme – wie schwebend nebeneinander, als wollten sie sich umschlingen, aber ohne Fassen und Halten –, sie haben ganz dieselbe Form. Noch mehr Gemeinsamkeit deutet sich an: Die Haut des Mädchens erscheint als etwas hauchzart Pflanzliches, das Schwanenantlitz gleicht, bei näherem Hinsehen, einer langgestreckten Knospe. Und beide streben in dieselbe Richtung, obwohl nur ein Gewirr von trockenem Gestrüpp sie erwartet; mehr tastend als weisend deutet das Mädchen dorthin, während sie zugleich sich dem Feuersturm zuzuwenden beginnt … Nicht genug damit: Vor schwarzer (nächtlicher?) Fläche hebt sich hell, schemenhaft, ein Baumstamm ab, der sich in zwei Äste teilt; deren einer berührt sich mit Zweigen, die aus dem Kopf des Mädchens aufsprießen. Und die Früchte, die dort im Laub bräunlich reifen, sind Granatäpfel, mit ihrer reichen Symbolsprache von Lieben, Sich-Öffnen, Schenken …
Aber soviel man nun auch ikonografisch assoziieren, psychologisch analysieren mag: Einer festen Deutung entzieht sich das Bild. Man betrachte nur das Gesicht dieser Leda oder Najade oder Dryade (was immer sie denn ist, oder was alles zugleich sie ist?): Nichts verrät uns das Mona-Lisa-Lächeln der geschlossenen Lippen. Geschlossen sind auch die Lider, wie schlummernd – oder aber sind sie gesenkt, blicken die Augen nach unten? oder gar, was umso wahrscheinlicher scheint, je länger man hinsieht: stehen die Augen weit offen, ohne Pupillen in eine unendliche Ferne schauend, wie antike Statuen – ?
Ich würde niemals wagen, hierfür einen griffigen Titel zu erfinden. Allenfalls mit Abstraktionen ließe sich etwas vom Gehalt in Worte fassen, etwa als „Verbundensein / Sich-Ergänzen von allem, was lebt“, aber dann müsste gleich wieder ein Kommentar folgen: so wie auch Geist und Natur, Mensch und Traum …
Was nicht zuletzt gesagt sei: Das Blatt ist einfach wunderbar schön. Wenn man sich daraufhin weiteren Arbeiten von Cernetsova zuwendet, erkennt man sofort ihre unverwechselbare künstlerische Handschrift. Einige Motive kehren immer wieder: die vegetabilen Elemente, bestimmte Farben, die sie kontrastierend und zugleich behutsam einzusetzen versteht, auch der nymphenhafte Mädchentypus bleibt sich gleich. Neben ihrer hervorragenden Technik aber ist sie Meisterin darin, mit dem Intellekt und der Fantasie des Betrachters zu spielen, und immer, so wie wir es hier erfahren, belässt sie klug einen Rest von Geheimnis.
(Andrea Fritz)