Vor hundert Jahren: Betrachtungen zum Jahrbuch 1923

Vor der so gelungenen und gut besuchten Tagung in Paderborn erklangen im Vorstand und Beirat der DEG immer wieder sorgenvolle Töne. Die Mitgliedszahlen nehmen deutlich ab, wobei neben der infolge der Coronazeit geringer gewordenen Kommunikationsdichte innerhalb der Exlibrisgemeinde ein zweiter Faktor – wir kennen ihn ja alle – eine große Rolle spielt: deren Altersdurchschnitt. Leider müssen wir nicht nur in jedem Jahr um mehr Mitglieder trauern, sondern sehen auch zunehmend, dass die Strapazen der Reise zu den Tagungsorten für viele zu groß werden, so dass sie sich entschuldigen müssen. Die Tagungen werden kleiner, immer häufiger vermisst man bekannte Gesichter. Mit der sinkenden Mitgliederzahl wird die finanzielle Situation der Gesellschaft schwieriger, und auch die Zahl derer, die sich aktiv engagieren.

Da die Lage vor 100 Jahren sicherlich keineswegs leich-ter war, versprach ich mir vom Blättern im Jahrbuch 1923 Aufschluss darüber, wie die Gesellschaft damals Krisen bewältigte. Immerhin herrschte damals nicht „nur“ eine Verteuerung des Lebens, unter der wir heute leiden, sondern das ganze Land stöhnte unter einer (Hyper-) Inflation. War Ende 1922 der höchste Geldschein noch 1000 Mark wert, so gab es im November 1923 als höchsten Schein einen im Wert von 100.000.000.000.000 M., also 100 Billionen.

Manche krisengeschuldete Sparmaßnahmen merkt man noch vor dem Aufblättern: das geringe Gewicht des Jahrbuchs. Es ist sehr schmal und leicht. Man öffnet es und sofort erscheint ohne weitere Vorsatzblätter oder inneres Titelblatt oder Inhaltsangabe die erste Seite mit einem Beitrag von Richard Braungart über Karl Michel, 9 Seiten lang, dunkles Papier, durch das die Buchstaben und Bildumrisse der vorherigen bzw. folgenden Seite durchscheint. Nach einmontierten Originalbeilagen sucht man vergebens.

Beim Lesen allerdings wird das Thema erst mal ausgeklammert. Stattdessen beklagt Richard Braungart engagiert, dass die Exlibrisgesellschaft dem Expressionismus immer noch ablehnend gegenübersteht. Er selbst wirbt engagiert für das Neue, für die expressionistischen Exlibris Michels, die er für „das Beste, was Michel bis jetzt gemacht hat“, hält. Erleben wir nicht auch gerade so eine Diskussion über etwas Neues, das CDG nämlich, dessen Anerkennung sehr langsam vonstattengeht?

Es folgen Bemerkungen zu einem Klinger-Exlibris, ein sehr guter Beitrag über die Holzschnitte von Hans Pape und weitere kürzere Künstlervorstellungen.

Danach geht W. von Zur Westen auf die eingegangenen Neujahrswünsche 1923 ein, deren Zahl – und hier wird erstmals deutlich die gesellschaftliche und ökonomische Not der gesamten Gesellschaft und des Vereins angesprochen – aufgrund der „verschärften Not unseres kulturellen Mittelstandes“ geringer geworden sei. Und schon vernimmt man Kummer in den Worten des Autors, denn er muss seine LeserInnen darüber informieren, dass sein jährlicher Beitrag über die PFs zum Neuen Jahr deutlich kürzer ausfallen müsse als sonst. Man erkennt: Es wurden aus finanziellen Gründen weniger PFs verschickt, und die verheerende gesamtgesellschaftliche ökonomische Not ließ auch hier am Umfang sparen. Sein besonderes Lob gilt übrigens speziell den Grafiken, die einen Bezug zur aktuellen Situation haben (Cäcilie Grafs „Papiergeldproduktion des deutschen Adlers“, Gelbkes „packende Jagd nach dem Dollar“ oder Fingestens „Anbetung der Göttin der Kurse“). Auffallend ist, dass im Vergleich mit den heutigen Jahrbüchern sehr viele der angesprochenen Blätter nicht abgebildet werden. Das gilt übrigens auch für den oben erwähnten Beitrag von Otto Richter, der nur von einem einzigen Klinger-Exlibris handelt, das aber nicht einmal zu sehen ist. Stattdessen wird es von einem Exlibris von Karl Michel geziert. Das zeigt ebenfalls, wie knapp das zugeteilte Papier war.

Als Nächstes stoße ich auf einen Beitrag von Erich Büttner über die einzelnen Sparten seiner eigenen Gebrauchsgrafik; bis heute ist das ein unverzichtbarer Beitrag für alle geblieben, die über Büttner arbeiten wollen.

Sehr gefesselt hat mich dann beim Weiterblättern und Weiterlesen eine Darlegung mit dem Titel Exlibris und Eigenblatt von Dr. Franz Koebner, bei der ich mich sofort wieder ins Heute versetzt fühle. Er setzt nämlich die Begriffe Exlibris, Luxusexlibris und Eigenblatt voneinander ab. Ein Luxusexlibris ist für ihn keineswegs mehr als Bücherzeichen gedacht, sondern diene vor allem zu Sammel- und Tauschzwecken. Diese Diskussion führen wir ja auch alle paar Jahre wieder, aber Dr. Koebner ist da sehr viel konsequenter. Er führt, um nur ein Argument von vielen wiederzugeben, an, dass dadurch das erotische Exlibris überhandnehme und die persönliche Note des Eigners verlorengehe. „Ein vorzügliches graphisches Blatt“, so schreibt er, „ist noch lange kein gutes Exlibris.“ Welch eine klar formulierte These! Und, da er niemanden in seinen Interessen und Vorlieben einschränken möchte, stellt er die Frage: „“Muß aber wirklich auf jedem graphischen Blatte ein Exlibris und ein Name stehen, damit es tauschfähig wird?“ Er schließt mit der Idee, den Begriff Eigenblatt einzuführen und dann auch in Tauschgesuchen zwischen Exlibris und Eigenblatt zu unterscheiden. Er ist der Ansicht, dass dann das Exlibris seine ursprüngliche Qualität als persönliches Buchzeichen bewahren könne und daneben freie Eigenblätter gestaltet werden sollten.

Doch nun genug der Lesefrüchte, die einen manchmal denken lassen, die Zeit habe stillgestanden. Ich wollte ja eigentlich nur etwas über den damaligen Versuch, die ökonomische Krise zu meistern, erfahren, die auch uns seit Pandemie und dem Krieg gegen die Ukraine immer wieder stark beschäftigt. Die Mitglieder unserer Gesellschaft vor hundert Jahren würden unsere finanzielle Situation (und ich spreche nur von dieser) wahrscheinlich allenfalls leicht angespannt nennen.

In den früheren Jahrbüchern waren die Vereinsnachrichten, also die Mitteilungen, die bis dahin erschienen waren, immer eingebunden. Und als ich mich endlich diesen zuwende, finde ich doch einige Antworten auf meine Ausgangsfragen. Der Vorstand war sich vor hundert Jahren trotz der unbewältigbar erscheinenden ökonomischen Misere in der Aprilsitzung 1923 einig, dass der Gesellschaft trotz aller Probleme etwas „geboten“ werden müsse, um sie im Verein zu halten, dass also gut gemeinte Sparmaßnahmen eher kontraproduktiv wirken könnten. Der Mitgliederbeitrag war am Ende des Jahres 2022 auf 1000 M heraufgesetzt worden, davon konnte man aber im April 1923, nicht einmal mehr ein einziges Heft der Mitteilungen drucken, das bereits viele Millionen kosten würde. Das Jahrbuch war nur durch Spenden von Mitgliedern finanzierbar gewesen. Und, um auch das hervorzuheben, der großen Bereitschaft von Künstlern, Druckvorlagen zu überlassen. Für die Zukunft wurden alle Mitglieder verstärkt zur Abgabe von Blättern für Versteigerungen gebeten.

In der Vorstandssitzung vom 14. Mai 1923 teilte der Schatzmeister mit, dass ca. 250 Mitglieder den Jahresbeitrag nicht bezahlt hatten (auch dieses Problem kommt uns bekannt vor), ihnen sollte statt der nächsten Mitteilungen lediglich eine Mahnung zugesandt werden. Doch dem Dilemma konnte so nicht beigekommen werden, und so setzte der Verein an den Schluss des Jahrbuchs noch eine Information an seine Mitglieder bezüglich des zukünftigen Jahresbeitrags. Zur Zeit seiner Festsetzung sei er „bereits ganz unzureichend“ gewesen und von vielen Mitgliedern erst beglichen worden, als er wegen der Inflation bereits „völlig wertlos geworden“ sei. Zur Versendung des Frühlingshefts der Mitteilungen reichten die Mittel nicht mehr aus. Nur durch großzügige Spenden zweier Künstler konnte Geld für den Druck des Jahrbuchs generiert werden. Auch von Mitgliedern aus dem Ausland seien viele Spenden gekommen. Manche Mitglieder hätten in ihrer Treue zum Verein das Äquivalent für den Beitrag in (der Inflation standhaltenden) Goldmark bezahlt. Viele Mitglieder konnten leider den Jahresbeitrag nicht mehr entrichten und mussten aus dem Verein austreten: „Die Betrübnis, mit der sie ihre Beziehungen zum Verein gelöst haben, wird von uns aufrichtig geteilt und nur durch die Hoffnung gemildert, dass eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse sie bald wieder in unseren Kreis zurückführen werde.“ Übrigens musste vom Jahr 1924 an von allen der Mitgliedsbeitrag in Goldmark errichtet werden. Und: Erneut bat der Vorstand, zum wiederholten Male, in seinem Schreiben „An unsere Mitglieder“ um freiwillige Erhöhungen der Mindestbeiträge, „damit eine reichliche Ausgestaltung unserer Veröffentlichungen möglich wird.“ Und das Schreiben schließt ein strenger Satz ab: „Anfragen, deren Rückporto nicht beiliegt, können nicht beantwortet werden.“

Es scheint trotz aller Probleme und Härten so gewesen zu sein, dass viele Mitglieder ihren Verein sehr treu unterstützt haben und dass die Krise durch die Inflation den Verein nicht dauerhaft geschwächt hat. Immerhin sind im ersten Halbjahr 1923 bereits mehr als 40 neue Mitglieder dem Verein beigetreten. Vielleicht schaut einmal jemand in das Jahrbuch 1923 und findet das selbst überrascht heraus und bestaunt die große Solidarität, die damals offen-sichtlich geherrscht hat.

Ulrike Ladnar

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