Bei der Betrachtung dieses Exlibris aus dem Jahr 1912 kam mir das bekannte Wanderlied „Im Frühtau zu Berge …“ in den Sinn. Der Monat Oktober bietet uns oft noch alle Schönheiten der Natur und motiviert zum Wandern in den Bergen oder in den goldgefärbten Wäldern. Der Aufstieg frühmorgens auf eine Anhöhe ermöglicht bei klarer Herbstluft einen wunderbaren weiten Blick in die Ferne. Die Mühe lohnt sich und in uns bleibt ein erhebendes Gefühl, wenn Mensch und Landschaft fast eins werden. Solche bewegenden Naturbegegnungen kennen wir auch aus den romantischen Bildern von Caspar David Friedrich. So erinnert dieses Exlibris von Vogeler in seiner Komposition an den „Wanderer über dem Nebelmeer“, den man in der Hamburger Kunsthalle bewundern kann und der heute als Inbegriff der Romantik gilt.
Sicher ließ sich der seelenverwandte Heinrich Vogeler von Caspar David Friedrich inspirieren, als er diese Radierung schuf. Im Entstehungsjahr dieser Grafik, im Jahr 1912, war die Zeit des Jugendstils, die Vogeler so berühmt gemacht hatte, vorbei und der Künstler suchte nach neuen Ausdrucksformen. Von ihm entstanden in dieser Umbruchzeit viele Gemälde und auch Grafiken, in denen Landschaften im Mittelpunkt stehen. Seine romantische Grundhaltung hält Vogeler weiter aufrecht, auch wenn Themen und Gestaltungselemente des Jugendstils immer weiter zurücktreten.
In diesem Blatt fehlen florale Rahmen oder märchenhafte Szenen, wie wir sie vom Frühwerk Vogelers kennen. Das Exlibris ist stilistisch weit weg vom Jugendstil und realistisch gestaltet. Es zeigt uns in Rückenansicht einen Wanderer, der in alpiner Landschaft in einem Geröllfeld aufsteigt. Während einer Verschnaufpause stützt er seine linke Hand auf dem Knie und seine rechte in der Hüfte ab. Er genießt sichtlich den Ausblick und schaut in die aufgehende Sonne, die hinter einem steil aufragenden Bergmassiv am Horizont erstrahlt. Zwischen dem Wanderer und dem Berg in der Ferne liegen im Tal noch die Nebelschwaden des Morgens, so wie wir sie auch in dem Bild von Caspar David Friedrich sehen. Hoch oben am Himmel, vor einer dunklen Wolkenfront, gleitet ein einzelner Vogel. So frei wie dieser fühlt sich sicherlich auch der Wanderer. Auf einem Stein rechts im Vordergrund ist das Familienwappen des Freiherrn von Reibnitz, dem Eigner des Blattes, zu sehen. In der Komposition der Grafik greift Vogeler eine Symbolik auf, die in der aufkommenden Arbeiterbewegung der Zeit häufig genutzt wurde. Der Blick in Richtung Horizont, zur aufgehenden Sonne, symbolisiert die Hoffnung auf eine zukünftige, neue Gesellschaft. Das Arbeiterlied „Dem Morgenrot entgegen“ greift diese Sehnsucht auf, die auch in diesem Exlibris zum Ausdruck kommt. Heinrich Vogeler nutzte diese Symbolik, die für ihn eine Verbindung seiner romantischen Haltung und seines aufkommenden sozialen Gewissens ermöglichte, in den folgenden Jahren für weitere Exlibris.
Auch der Auftraggeber für dieses Blatt war als Adliger von sozialreformerischen Ideen geleitet. Er hieß mit vollem Namen Kurt Artur Gustav Hans Otto Freiherr von Reibnitz (1877–1937) und entstammte dem alten schlesischen Adelsgeschlecht von Reibnitz. Nach dem Abitur absolvierte Kurt von Reibnitz ein Hochschulstudium und wurde 1902 an der Universität Rostock zum Dr. jur. promoviert. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre im Bankwesen und promovierte 1912 erneut zum Dr. phil. und arbeitete anschließend von 1912 bis 1913 als Attaché an der deutschen Botschaft in Washington. Vogeler lernte von Reibnitz bei seinen Besuchen von Carl Hauptmann in Schreiberhau in Schlesien kennen und verspürte eine gewisse Nähe zu den sozialen Ideen des Adeligen. Von Reibnitz fühlte sich der einfachen Bevölkerung verantwortlich und setzte sich für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse ein. Von 1913 bis 1918 war er Landrat des schlesischen Landkreises Falkenberg. Unter dem Eindruck der Novemberrevolution schloss sich Kurt von Reibnitz 1918, nach einer öffentlichen Kritik der herrschenden Verhältnisse im Kaiserreich, der SPD an und war ab 1920 Abgeordneter und später Staatsminister im Landtag des Freistaats Mecklenburg-Strelitz. Seine politische Haltung brachte ihm die Ächtung seiner Standesgenossen ein, die ihn „den roten Baron“ nannten. Biografisch gibt es also zwischen Auftraggeber und Künstler gewisse Parallelitäten.
(Siegfried Bresler)