Exlibris des Monats August 2023 – Oleg Dergachov: Exlibris für Birgit Göbel

Wenn man sich Gedanken über ein geeignetes Exlibris des Monats macht, geht man oft von allgemeinen gesellschaftlichen oder politischen Ereignis-sen oder Krisen aus, das war zu Coronazeiten so, das ist auch seit dem rus-sischen Überfall auf die Ukraine so. In normalen friedlichen und krisenarmen Zeiten, die immer seltener zu werden scheinen, setzt man sich gerne mit ei-nem Exlibris auseinander, dessen Thema an einen Künstler, Dichter oder Komponisten erinnert, der in dem betreffenden Jahr einen runden Geburts-tag hätte und der deswegen erneut in das kulturelle Gedächtnis der kunst-, literatur- oder musikinteressierten Gesellschaft gerät. Manchmal steht auch ein saisonaler Aspekt im Mittelpunkt, zumeist der Frühling, ein Feiertag oder andere Festtage, seien sie religiöser, historischer oder politischer Natur.

Die Überlegungen zum Monat August verliefen etwas anders. Ein sehr trau-riges Mail, das Oleg Dergachov an den Präsidenten der DEG geschickt hatte, bewog mich, mich diesmal für eines seiner Exlibris zu entscheiden. Eigent-lich beeindrucken mich fast alle stark, aber das ausgewählte besonders nachhaltig. Das bedeutete allerdings nicht, dass ich mich sofort ans Schrei-ben machen konnte, denn die Radierung aus dem Jahr 2000 für Birgit Göbel war – wie viele andere der Exlibris des Künstlers  – schwer entzifferbar. Vielleicht auch gar nicht. Trotzdem konnte ich es nicht weglegen und ent-deckte immer wieder Neues darauf.

Man sieht zentral zwei lange, parallel angeordnete, wuchtig runde, nicht näher definierbare Objekte: vielleicht Fundstücke, die man aus der Erde ausgegraben hat, vielleicht Wrackteile aus dem Meer oder dort nach einem Krieg hinterlassene panzerbrechende Betonpoller oder Sonstiges, vielleicht 

vom Himmel gefallene oder fallende Meteoriten oder, was angesichts der meist glatten Oberfläche wahrscheinlicher ist, unbekannte anthropogene Objekte. Zwischen ihnen halten sich nackte oder halbbekleidete Menschen mit einem Vogelkopf auf, Männer und Frauen, die die schwere Last über ihren Köpfen tragen. Möglicherweise sind es aber auch keine Menschen mit einem großen Schnabel im Gesicht, sondern Vögel mit einem Menschen-körper. Wer kann das schon ausmachen? Unwillkürlich fallen einem zunächst die ca. 15.000 Jahre alten Höhlenmalereien bei Lascaux mit ihren berühmten Vogelmenschen ein, dann aber sofort auch Max Ernsts Mischwesen zwi-schen Mensch und Tier, von denen sein Vogelmensch, der Loplop heißt, der bekannteste ist und durch seltsame Handlungen auffällt. Vogelmenschen tauchen in der gesamten Kulturgeschichte immer wieder auf, in Gestalt der altägyptischen Götter Horus und Ra, aber auch in einem Traum, auf den Sigmund Freud in seiner Traumdeutung eingeht, um nur zwei weitere bekannte Darstellungen zu nennen. Diese Wesen werden durchgängig als geheimnisvoll und unheimlich wahrgenommen, was wahrscheinlich der fehlenden Mimik von Vogelgesichtern zuzuschreiben ist. Nicht in jeder Epoche und Kultur wird ein Vogelmensch als Mischwesen gesehen, oft gilt er als eine dritte Art Lebewesen.

Dergachovs Geschöpfe scheinen sich vorwärts zu bewegen, man versteht aber nicht, wohin sie das riesige Objekt tragen wollen und warum sie es tun. Denn wenn sie sich noch eine Weile weiter bewegen, würden sie vermutlich abstürzen. Irritierend ist auch, dass das untere Objekt viele florale Elemente aufweist, Blätter und Stiele. Vielleicht wachsen sie aus dem Objekt heraus, vielleicht aber auch aus seltsamen Gefäßen wie den Ringen. Auf einem die-ser Ringe, dem größeren, sitzt ein kleiner Vogel und betrachtet die Szenerie so verwundert wie ich. Und dennoch: Von der Szene geht etwas Bedrohliches aus, ein Gefühl, das sich noch verstärkt, wenn ein drittes Objekt in den Blick gerät, das ohne Halt über den beiden anderen schwebt, den unteren Rand eines dritten sieht, das nicht getragen wird, sondern als ob esjederzeit auf die anderen herunterfallen und schweren Schaden anrichten könnte. Bedroh-lich ist auch ein großes spitzes Objekt daneben, das nach unten gerichtet ist, ein riesiger Vogelschnabel vielleicht oder aber Teil eines Wracks oder eine gefährliche Waffe. Vielleicht stürzt auch ein Meteorit herab.

Ich habe jetzt sehr oft das Wort „vielleicht“ verwendet, und je länger ich nachdenke, desto mehr Rätselhaftes, Unerklärliches tut sich auf. Beispiels-weise sieht man auf dem unteren und dem oberen Objekt nicht, ob sie über-haupt befestigt, stabil sind oder aber sich in einem Zwischenzustand wie Fliegen oder Getragen-Werden befinden. Man weiß also nicht, ob die Gefahr von oben, unten, vorne links oder rechts hinten droht, weil da die Erzählung einfach abgebrochen wird bzw. es dem Betrachter überlassen ist, die Erzählung zu Ende zu erzählen.

Im Gegensatz zu den vielen Unklarheiten und Vielleichts werden auf Derga-chovs Radierung eine große Menge Ordnungssysteme sichtbar, wie sie im Allgemeinen der Rätsellösung, der exakten topografischen und zeitlichen Verortung im hic et nunc und dem Wissen um das Quo vadis? dienen. Bei-spielsweise weist von unten links nach oben ein Pfeil auf die Richtung hin und man erkennt eine Art Steuer zur Bewältigung des Wegs in diese Rich-tung. Man sieht Uhren sowohl mit Jahreszahlen als auch solche mit Stunden, es gibt Kompasse zur Orientierung und immer wieder kleine Zahlen. Die aller-dings scheinen entgegen ihrer Funktion keiner Ordnung zu folgen. Jede Uhr hat ihr eigene Zeit; jeder Kompass zeigt eine andere Himmelsrichtung an. Die gängigen Ordnungssysteme scheinen also die Welt nicht mehr ordnen und kategorisieren zu können und nur noch als Relikte eines (vielleicht früher einmal geregelten) Systems irgendwo im All herumzuschweben oder aber unter der Erde im Wasser zu schwimmen, in das die Vogelmenschen ent-weder versinken oder bereits versunken sind, ohne es zu wissen.

Viele Motive dieses Exlibris tauchen auch auf anderen Exlibris des Künstlers auf. So ist das Thema des unsicheren Grundes häufig zu sehen, ebenso am Himmel oder an anderen Orten herumschwebende Steine, wenn es denn Steine sind, und Situationen, in denen Menschen ihren Weg nicht finden, wie Labyrinthe oder Brücken, die man nicht überqueren kann. Es geht also oft um den Verlust des Weges, der Richtung, der Orientierung. Auch Vogelmenschen findet man im gesamten Werk Dergachovs, besonders in seinen kleinen Plastiken.

Die Exlibris ziehen einen in den Bann; sie sind verrätselt, surreal, beängsti-gend. Dergachovs phantasievolles Spielen mit immer wieder aufgegriffenen mythologischen und kulturgeschichtlichen Motiven und rätselhaften Symbo-len gibt der düsteren Atmosphäre seiner Exlibris auch Entspannung, kon-terkariert sie. Hier geschieht das durch das Zitat des Vogelmenschen von Max Ernst. Was im Exlibris gelegentlich als leicht skurriles und ironisches Detail auftaucht, zeigt sich in den Cartoons Dergachovs als bunte Komik oder Satire.

Auf der Rückseite des Exlibris findet sich ein interessanter Hinweis: Th.:
„Wir tragen schwer an der Zeit.“ Man denkt unwillkürlich an die Idee von der Absurdität menschlicher Existenz, wie sie in dem Mythos von Sisyphos verdichtet ist, der ähnlich wie die Vogelmenschen auf diesem Exlibris schwer an einem Stein zu tragen hat. Wer den Satz aufgeschrieben hat, weiß ich nicht. Es kann ihn irgendein Sammler oder eine Sammlerin während des Tauschvorgangs notiert haben, als es zu einer Erörterung des Themas gekommen ist. Denn die Botschaft ist wohl kein Zitat, zumindest kenne ich es nicht und habe es auch nicht im Netz gefunden. Aber Teile des Satzes wecken Assoziationen an Wendungen wie: eine schwere Last tragen, schwer wie Stein sein, in schweren Zeiten leben. 

Vom Entstehungsdatum des Exlibris (2000) und den Jahreszahlen – 1999 und 2000 – ausgehend, ist es auch ein Milleniumsblatt, das aber die Mille-niumsblätter zu Beginn des vorigen Jahrhunderts konterkariert. Diese zeig-ten Aufbruch, Hoffnung, Neugierde auf das Kommende, das Schöne, den neuen Stil der Jugend. Doch 14 Jahre später brach den Prognosen zum Trotz der Erste Weltkrieg aus. Mit der Beschreibung des „schweren Tragens an der Zeit“ hat Dergachov das kommende Jahrhundert, das, in dem wir jetzt leben, leider richtig vorhergesagt, genauer noch: Wir tragen von Jahr zu Jahr schwerer an der Zeit. Dergachov weiß das aus eigener Erfahrung.

Im Jahr 1961 in Rostov am Don geboren, hat Oleg Dergachov seine ersten 18 Lebensjahre in Russland verbracht, ab 1979 studierte er fünf Jahre in Lviv. Die Ukraine blieb ca. 20 Jahre seine Heimat. Aber immer wieder führte ihn seine weitere Ausbildung an viele andere Orte in Europa, in die Slowakei, nach Deutschland und nach Polen; gleichzeitig aber hatte er mehrere Gastdozenturen in vielen Orten in der Welt, auch in Amerika und Kanada und anderswo. Er arbeitete sich künstlerisch weiter, sei es im Bereich der Druckgrafik, der Malerei, der Buchillustration , der Bronzeskulptur und anderem. Die Liste seiner Aufenthaltsorte und vor allem die seiner sehr zahlreichen Ausstellungsorte ist so lang, dass die Bezeichnung Kosmopolit auf ihn unzweifelhaft zutrifft. 2005 zog er für längere Zeit nach Kanada; seit 2019 lebt er in Soyaux in Frankreich. Dort hat er gleich nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ukrainische Flüchtlinge aufgenommen. Das entspricht seiner Einstellung: „Humor und eine positive Einstellung helfen, in unserer grausamen Welt zu überleben. Ich habe für meine spirituelle Freiheit, für meinen mentalen Raum gekämpft. Ich glaube, ich habe gewonnen.“ (oleg dergachov irancartoon)

Zwei Zitate aus Mails von Oleg Dergachov, das erste vermittelt über Utz Benkel, das zweite an den Präsidenten der DEG, sowie ein Zeitungsausschnitt aus einem Interview sollen diesen Beitrag abschließen:

Dear DEG friends,

War is continue and all everyone feel it in our daily life. I am starting anti war ex libris project and invite you to join it. Let’s mock warpigs in your new book plates. As a prize-winner of over 150 international cartoon contests in 27 countries, I will create antiwar ex libris for you with humor and satire. Spread them around, exchange and make the end of this terrible war closer. Let’s use your ex libris as a weapon against terrorists, Love, life and smile will win!

Dear Henry,

It was a bad news this morning- my whole exhibition in Soyolis (our cultural center) was burned out by strangers last night … It was a very last day of 3 month personal exhibit. I lost 16 big paintings, several bronzes and a lot of graphics and watercolors.

„Ich habe 15 Jahre Arbeit investiert, um diese Gemälde zu schaffen. Noch mehr für die Skulpturen. Die Fantasie ist meine Inspirationsquelle. Warum Gemälde verbrennen? Völlig surreal. Sie haben den künstlerischen Ausdruck zerstört, symbolisch ist es ernst“, rebelliert der Künstler. (…) „Ich konnte das Gebäude am Freitagmorgen kaum eine Minute lang betreten. Das Zimmer war sehr dunkel, ich konnte nicht alles sehen. Skulpturen lagen am Boden, völlig verbrannte Leinwände. Es gibt große Schäden im Inneren, es ist dramatisch,“ beklagt der Maler, der nie wiederfinden wird, was er in den Flammen der Gewalt verloren hat. „Es war die Frucht meiner damaligen Fantasie, unmöglich, dasselbe noch einmal zu tun, es hat kein Interesse.“ » (Soyaux: Oleg Dergachov verlor seine Gemälde im Brand von Soëlys (dayfr.com)

Ulrike Ladnar

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