Exlibris des Monats Juni 2020. Ida Bohatta-Morpurgo: Exlibris für Ruth Birnholz, 1934, Klischee, 97 x 61 mm
In den letzten drei Monaten spielte bei jeder Überlegung, welches Exlibris man einen Monat lang als Exlibris des Monats präsentieren sollte, die Corona-Pandemie eine Rolle. Vorher orientierte man sich vor allem an jahreszeitlichen Aspekten, an Gedenktagen, an Jubiläen großer Künstler, Dichter, Komponisten, deren Spuren sich ja bis heute häufig auf Exlibris finden. In diesem Monat, dem ersten Sommermonat des Jahres 2020, ist der Wunsch gewachsen, ein Blatt aus „einer heilen Welt“ zu betrachten, ein fröhliches, helles, fantasiereiches, unbeschwertes Sommerblatt.
Und da lag es nahe, bei der bis heute als Bilderbuchillustratorin beliebten Ida Bohatta-Morpurgo zu suchen, die zwei Exlibris für Ruth, die Tochter von Marco Birnholz, dem bekannten jüdischen Exlibrissammler und Apotheker aus Wien, gezeichnet hat. Auf dem ausgewählten sieht man eine Wiese, auf der ein aufgeschlagenes leeres Buch liegt, das von vielen Wiesengeschöpfen betrachtet wird. Die Wesen sind Blumenfrauen und Blumenmädchen: Deutlich erkennt man die Vielfalt der Wiesenblumen, die teils der Fantasie entstammen, teils aber reale Vorbilder erkennen lassen wie die Glockenblumenfrau und das Gänseblümchenmädchen. Nur das Knospenmädchen auf den Schultern seiner Mutter schaut noch lieber in die Ferne als in das Buch. Während die anderen Blumenmädchen sich etwas unschlüssig darüber zu sein scheinen, was sie mit diesem wiesenfremden Objekt anfangen sollen, wissen die Blumenfrauen ganz genau, was ansteht: Die leeren Seiten müssen mit Bildern und Worten angefüllt werden, und die Kleinen sollen wohl in der Blumenschule Lesen und Schreiben und Malen lernen. Die Zeigefinger der drei Blumenfrauen sprechen eine eindeutige Sprache, doch jeder Betrachter und jede Betrachterin kann unbesorgt sein: Das Lernen wird fröhlich, lustig und interessant werden!
Bei dieser abschließenden Bemerkung lande ich doch wieder bei der Corona-Krise: Es ist zu hoffen, dass auch für unsere Kinder bald wieder ein fröhlicher, lustiger und interessanter Unterricht möglich sein wird, ein normaler Unterricht, in dem man sich gemeinsam über ein Buch beugen und sich darüber unterhalten kann, ohne dass man dafür irgendein anderes Medium braucht …
Ida Bohatta-Morpurgo (1900–1992) illustrierte gut 70 eigene Bilderbücher und mehr als 50 Bilder- und Kinderbücher anderer bekannter Autoren und Autorinnen, selbst Schulbücher machte sie mit ihren Illustrationen reizvoll. – Die katholisch-monarchistische Wiener Künstlerin erhielt wegen ihres jüdischen Ehemanns im Dritten Reich Publikationsverbot; ihre Bücher aber behielten bis heute ungebrochen ihre große Beliebtheit. Viele ihrer Werke werden immer wieder neu aufgelegt, was ein kurzes Nachschlagen in den Internetantiquariaten und Internetbuchhandlungen ergibt.
Die Eignerin des Blattes, Ruth Birnholz (1925–1991), erhielt das Blatt als neunjähriges Kind. Fünf Jahre später musste sie Wien verlassen und wurde sie mit einem Kindertransport nach England geschickt, ein Jahr später kam sie in Amerika an.
Wenn Ida Bohatta-Morpurgos Exlibris mit seiner sommerlichen und fröhlichen Atmosphäre uns ein wenig aus der Realität entführt und uns dabei ein wenig Freude bereitet, so könnte man auch einmal die Diskussion, ob dabei Elemente von Kitsch beteiligt sind, außen vor lassen.
Ulrike Ladnar