Im Allgemeinen gilt der November als regnerischer, kalter, grauer, trauriger Monat mit vielen Gedenktagen an Verstorbene, bevor dann die stimmungs-vollen Adventskränze überall die Grabkränze vergessen lassen. Dieses Novembergefühl wird in diesem Jahr allein schon durch die politische Situation, die vielen Toten durch Kriege und Überfälle und Drohungen bestimmt noch verstärkter als sonst mit Trauer und Angst und Einsamkeit verbunden sein.
Deswegen wollte ich diese Stimmung nicht noch steigern und habe deshalb keines der vielen melancholischen Exlibris-Blätter zum Thema Tod gewählt – und da gibt es sehr viele, ist doch der Tod eines der häufigsten Themen vieler Exlibrissammlungen, vor allem in den Tod und Trauer ästhetisierenden Jugendstilexlibris.
Stattdessen habe ich ein Exlibris ausgesucht, das eigentlich, obwohl der Tod auftaucht, nicht traurig stimmt. Eher ist es ein wenig seltsam, was sich der mir unbekannte Künstler (ich habe ihn bislang in keinem Verzeichnis oder im Netz finden können) vor ca. hundert Jahren ausgedacht hat. Und es ist wirklich eine ganze Menge, was er da in sein Exlibris für Samuel X. Rapbill M. D. „hineingepackt“ hat.
Mein Blick folgt dem Exlibris von oben nach unten. Ganz oben schwebt eine breites Stoffband, wie man es bei feierlichen Anlässen wie zum Beispiel bei Ordensverleihungen, festlichen Hochzeiten, offiziellen Festakten, Taufen, vor allem aber bei Begräbnissen verwendet, dort meistens als Kranzschleife, deren Enden mit einem Spruch bedruckt sind. Ein Spruch findet sich auch hier: „Non est vivere, sed valere, vita!“ Dieser Spruch, der besagt, dass das Leben nicht dadurch seinen Wert erhält, dass man es einfach „lebt“, sondern dass man es wertschätzt, geht auf ein Epigramm von Marcus Valerius Martialis (40–103/104) zurück, dessen Epigramme und Sentenzen bis in die Renaissance hinein bekannt und berühmt waren. Eine Übersetzung, die diese Aussage ganz genau wiedergibt, habe ich im Deutschen nicht gefunden,
aber die englische Übersetzung Life is more than staying alive kommt meiner Meinung nach dem lateinischen Zitat recht nahe. Eine moderne Variante zu dem Zitat wäre der von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Palliativmedizin, geprägte Satz „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, ein Satz, der zwar eher nur auf die letzte Lebensphase bezogen ist, sich aber probeweise auch als Vorstellung für die gesamte Lebensgestaltung lesen ließe.
In den beiden ansatzweise zur Schleife gewundenen Spruchbändern rechts und links steckt je ein Äskulapstab.
Unter der Schleife findet sich mittig ein Emblem, das ebenfalls ein gelehrtes Motto, diesmal von Horaz, aufweist. Dieses Logo wurde von der Universität in Pennsylvania von 1757–1780 benutzt, in ähnlicher Weise wieder von 1848 (mit einer jahrzehntelangen Unterbrechung) bis 1933. Horaz` Sentenz lautet ungekürzt „Quid leges sine moribus vanae proficiunt?“ (Was nützen Gesetze, wenn sie ohne Moral hohl sind?“) und steht im Halbkreis um eine Pyramide, die von Büchern gebildet wird, auf deren Rücken als Titel – zumindest auf der Abbildung der Universität so erkennbar – die wichtigsten Lehrstoffe verzeichnet sind. Der erste Leitsatz zur individuellen Lebensführung auf der Schleife wird hier durch einen Leitsatz für gesellschaftliches und moralisches Handeln ergänzt.
Darunter stehen sich ein Storch und der Tod gegenüber, und beide wiegen in trauter Einheit ein Baby, das in seiner Windel sitzt und freundlich den Betrachtern und Betrachterinnen zuwinkt und von der ganzen gelehrten Welt, die sich über ihm auftürmt und auf ihn wartet, noch nicht belastet ist. Der Tod und der Storch scheinen eine erprobte Zusammenarbeit entwickelt zu haben. Der Tod geht ganz in seiner friedlichen Ammenarbeit auf, er lacht, schwingt die Hüften und ist entspannt. Noch hat er ja Zeit für seine Aufgabe vor sich. Der Storch, vielleicht von seiner Geburtshilfe noch erschöpft, wirkt aufrechter, gerader; seine wichtigste Aufgabe hat er ja eigentlich bereits hinter sich. In diesem Augenblick sind Storch und Tod einig: Der eine hat den Menschen ins Leben gebracht, der andere will, dass der neu geborene Mensch auf Erden verweilt und auf ihn wartet, bis seine Zeit gekommen ist. Über den beiden Köpfen schwebt der Äskulapstab des Spruchbands.
Zwischen dem Tod und dem Storch schaukelt das Kind sichtlich fröhlich über einer griechischen Statue, die, unschwer an ihrer Ähnlichkeit mit bekannten griechischen Skulpturen und Abbildungen zu erkennen, Äskulap darstellt. Natürlich hat diese Statue ebenfalls den mit einer Schlange umkränzten Stab in der Hand.
Auch der griechische Mediziner steht auf einer kleinen Buchpyramide, die eine wichtige Information für Exlibrisfreunde und -freundinnen enthält: den Namen des Eigners: Samuel X. Radbill M. D. Zwei Treppen verbreitern diese Pyramide bis zum Bildrand, wo sie dem Storch und dem Tod einen guten Halt bieten.
Das Exlibris ist schlicht, ohne räumliche Tiefe und nicht immer ganz geschickt gezeichnet, sein bestimmendes Formprinzip ist das der strengen Symmetrie. Es ist ohne Zweifel ein Gebrauchsexlibris, was alleine schon seine enge Bindung an den Eigner beweist. Ohne weitere Recherche kann man vermuten, dass Samuel X. Radbill M. D. ein hochgebildeter oder sich zumindest humanistischer Bildung verpflichteter Mann war, der um 1900 geboren ist und der (wohl bis 1924) die Universität in Pennsylvania besucht hat und sich dieser stolz verbunden fühlt, und dass er – selbstverständlich – Arzt (M. D.) war, vielleicht sogar ein Kinderarzt. Schaut man dann bei google nach, so findet man alle diese Vermutungen bestätigt und könnte sie noch ergänzen, z. B. dadurch, dass Samuel X. Radbill M. D. ein Exibrissammler war.2)
Man hat, so hoffe ich, trotz eines so ernsten Themas wie dem des Todes, ein wenig Freude und Amüsement darüber, wie unkompliziert die schweren Dinge des Lebens hier in einem simplen Bild dargestellt sind, in dem sich Storch (Leben) und Tod nicht im konkreten Kampf (wie es Samuel X. Radbill in seinem Berufsleben bestimmt häufig erlebt haben wird) befinden, sondern in einer Art grundsätzlichem Einklang darüber, dass jeder von ihnen seine Aufgabe im Leben der Menschen hat.
- University of Pennsylvania Logo and symbol, meaning, history, PNG, brand (1000logos.net)
- Samuel X Radbill Lecture: Do Children Have a Right to Be Healthy? A Historical Perspective | Consortium for History of Science, Technology and Medicine (chstm.org)
„Samuel X Radbill, MD (1901 – 1987) was a pediatrician, bibliophile and medical historian whose life and practice centered in Philadelphia. A graduate of South Philadelphia High School and the University of Pennsylvania School of Medicine, he interned at Lancaster General Hospital before his residency at Children’s Hospital of Philadelphia. In addition to practice out of his home, he was on the pediatric staff at Philadelphia General Hospital and helped found and run free, local pediatric clinics in the city. When elected a Fellow of the College of Physicians of Philadelphia in 1943, he was already an avid collector of bookplates and medical texts, promoting the study of medical history through exhibits and activities with the American Academy of Pediatrics, the American Medical Association and the American Association for the History of Medicine. Dr. Radbill participated actively in the College’s Section on Medical History, serving at different times as Clerk and as Chair. He was a member of the Council and Bicentennial Committee and a longtime member of the Library Committee.“
Ulrike Ladnar