Exlibris des Monats Oktober 2023 – Anna Tikhonova-Yordanova für Nely van de Weerd

In diesem Jahr war der September ungewöhnlich heiß. Er kam wie ein zweiter Hochsommer einher, alle Bäume präsentierten ihre dichten sattgrünen Blätter, von denen sie noch kaum eines verloren hatten. Die TeilnehmerInnen der schweizerischen Exlibristagung am zweiten Septemberwochenende in Basel sahen mit Freude den dortigen Sommerfreuden zu: dem Schwimmen im Rhein und dem gemeinsamen Sitzen auf Brunnenrändern, die Füße zur Abkühlung ins Wasser gestellt, in der Hand ein Glas mit prickelndem Sekt.

Im sommerlich aufgeheizten Tauschsaal der Universitätsbibliothek in Basel fiel mir dann ein Exlibris auf, das mich auf den ersten Blick an die Farben des Herbstes erinnerte, dessen erste Anzeichen in diesem Jahr so ungewöhnlich lange auf sich warten lassen. Denn das Exlibris wies genau die Farben auf, die den Oktober kennzeichnen, der uns ja meist mit dem ihm zugeordneten Epitheton ornans golden in den Sinn kommt: als goldener Oktober also. Dieser Goldton ist charakteristisch für das herbstliche, gelb und rot gefärbte, bereits von welken bräunlichen Blättern durchsetzte Laub, das dann durch Sonnenstrahlen den Anschein erwecken kann, als trügen die Bäume goldene Baumkronen, besonders bei niedrigem Sonnenstand am Morgen und am Abend.

Je häufiger und genauer ich das Blatt inzwischen betrachtete, desto deutlicher zeigte sich mir, dass die eindeutig herbstlichen Farben des Blattes keineswegs eine jahreszeitliche Betrachtung evozieren wollen, wie wir sie aus unseren klassischen herbstlichen Gedichten kennen. In unseren Lyrikbänden ist immer die Rede von der “letzten Rose“ wie in dem berühmten Gedicht Sommerbild von Friedrich Hebbel. Selbst in dem Gedicht „Astern“ von Gottfried Benn wird der Rosen gedacht. Fast alle Blumen, die in diesen Herbstgedichten „noch“ blühen oder leuchten, tragen das Attribut „letzte“. Weitere Farben sind immer wieder braun (Liliencron: Herbst: „Brauner dunkelt schon die Heide“) und ganz oft golden, z. B. beschreibt Georg Heym in Der Herbst das „Meer der goldnen Stoppeln“. Fast immer werden in Herbstgedichten die „noch“(!) goldenen Bäume und Wälder beschworen.

Trakl verleiht in dem Gedicht Der Herbst des Einsamen den gelben Herbstfarben schon einen „vergilbten Glanz“. D. h., dass alles sein Ende in sich trägt, an Vergänglichkeit mahnt, zur Einsamkeit führt. Aber diese morbide, melancholische Atmosphäre strömt nicht von der Radierung Anna Tikhonovas aus. Sie wirkt friedlich, ruhig, leicht, wie selbstverständlich, poetisch. 

Wofür, wenn nicht für diese Melancholie, setzt Anna Tikhonova-Yordanova, eine in Belarus geborene, jetzt in Bulgarien lebende Künstlerin, auf ihrem Exlibris für Nely van de Weerd die Farben des Herbstes ein? Ich erinnere mich an andere Exlibris der Künstlerin, die ich vor längerer Zeit gesehen habe. Da hat sie ihre Arbeiten häufig auf schwarzem Papier gestaltet, im Golddruck zum einen und mit Zusatzmaterialien zum andern, zum Beispiel liebte sie an zwei Stellen befestigte weiße Fäden, die sich bewegten und so spielerisch Verbindungen zwischen zwei weißen Objekten auf dem schwarzen Karton herstellten.

Ich betrachtete weitere Blätter von Anna Tikhonova. Außer den Farben Weiß, Schwarz und Gold verwendet sie in ihren Radierungen eigentlich – mit wenigen Ausnahmen – fast ausnahmslos diese herbstlichen Rot-, Gelb- und Brauntöne, erdige Naturtöne eben, aber man findet kein Grün, kein Blau. Häufig setzt sie, um figurale Elemente darzustellen, realistisch gemalte Elemente ein, die aus der Natur stammen: Federn beispielsweise oder Blumen. So eng wie ihre Farbpalette ist auch die Wahl ihrer Themen, die letztlich immer um Nähe, Körper, Paare, Liebe kreisen, seien es zwei Vögel mit Körpern aus je einer Feder, sei es eine Feder, die zwischen den geöffneten Schenkeln einer Frau herumfliegt, seien es zwei Beinpaare, das eine muskulöser, das andere leichtfüßiger. Keines ihrer Exlibris, die durchaus Erotik anklingen lassen, verlässt dabei eine spielerische, ästhetische, leichte Ebene. Manchmal verdeckt eine Feder, ein Weinglas, eine Blume auch die Scham, auf einem Exlibris ist es sogar ganz konventionell ein Blatt. Der Körper, fast nur der weibliche, wird auf diese Weise zum Thema und gleichzeitig zum Fond des Gezeigten, er ist schön, nicht „ausgestellt“.  Auf diesem Hintergrund zeigt sich das Leben: rätselhaft, aber doch leicht.

 

Auf dem abgebildeten Exlibris sieht man die spielerische Raffinesse von Annas Tikhonovas Technik besonders deutlich. Anfänglich nimmt man mit reiner Freude die Farbgebung wahr, das Braun in verschiedenen Farbgraden von hell- bis dunkelbraun, fast schwarz, das Orange, das Gelb, das Weiß, dann ist man entzückt an dem Gegensatz zwischen der fast naturgetreu gemalten Blume, obwohl man sie nicht eigentlich bestimmen, benennen kann, und dem seltsamen braunen, mit weißen Linien durchzogenen Hintergrund, fragt sich, was das ist: ein Feld? Oder ein Baumstamm?  Man ist erstaunt über das kleine weiße Kreissegment auf der linken Seite, in dem der Eignername vermerkt ist. Dadurch erhält das Blatt ein ungewöhnliches Format – außer, wenn man es als Teil des Bildes deutet.

Und dabei helfen nicht zuletzt die Beobachtungen an den anderen Exlibris. Denn betrachtet man probeweise das kleine Kreissegment als konkave Taillenrundung zwischen dem Ober- und Unterkörper einer Frau, löst sich die leichte Verrätselung auf. Auf der rechten Seite nämlich erkennt man dann die andere Seite der Taille, nur dass der Körper links vor einem weißen Hintergrund steht und rechts vor einem sehr dunklen, der rechts oben zu sehen ist Zwischen dem rechten Oberkörper und dem dunklen Hintergrund ist der Teil eines Arms sichtbar. Die gelb-orange Blüte unten bedeckt die Scham der Frau. Der Körper der Frau ist von weißen Linien und Verästelungen durchzogen, die an die Adern von Blättern erinnern, aber genauso die Adern und Gefäße widerspiegeln könnten, die unter der Haut von Lebewesen, auch von Menschen schlummern.

Die Frau wird, wie oben angedeutet, selbst ein Teil der Natur, und die von Anna Tikhonova gewählten herbstlichen Erdfarben bestärken eben das: dass Mensch und Natur und Welt sich wandeln, dass Menschen im Wissen darum Krisen und Freuden beglückt annehmen können und müssen und so dem Kreislauf folgen, dem sie angehören, in dem immer wieder etwas vergeht, aber auch neu entsteht.

Wenn man so will, könnte man also letztlich doch auch eine herbstliche Stimmung erkennen, aber nicht die übliche traurig-melancholische, sondern eine lebens- und liebebejahende, die eines mit dem Geschehen, das vielleicht auch im Sinne von Goethes rätselhaftem „Stirb und Werde“ gedeutet werden könnte, In-Einklang-Stehens.

Ulrike Ladnar

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