EL des Monats September 2020 – Konstantin Kalynovych: Vineyard in Heaven

Exlibris des Monats September 2020: Vineyard in Heaven Konstantin Kalynovych: Exlibris für Jana K. & Peter B., 2013, C 3, 98 x 108 mm

So früh wie selten beginne dieses Jahr die Weinlese in Deutschland, konnte man vor kurzem in verschiedenen Zeitungen lesen, die Ernte früh reifender Sorten für den Federweißen setzte beispielsweise in Rheinland-Pfalz schon vor Mitte August ein, und die Hauptlese soll Anfang September beginnen.

Da liegt es nahe, als Exlibris des Monats September ein Blatt zu präsentieren, in dem die Weinlese im Mittelpunkt steht. Konstantin Kalynovych hat es für Jana K. & Peter B. radiert. In der Mitte der Radierung sieht man einen halbnackten Mann in einem riesigen Bottich stehen, der wohl mit seinen Füßen kraftvoll die Reben zerstampft, um aus ihnen so viel von ihrer süßen Flüssigkeit zu gewinnen, wie es nur möglich ist. Man muss schon auf einer angelehnten Leiter hochsteigen, um ihm bei seiner Arbeit zu helfen. Manche der ihn umstehenden Buttenträger, die die von ihnen mit der Hand gelesenen Früchte auf dem Rücken zu ihm schleppen, stecken sich auch noch die eine oder andere der Weintrauben in den Mund. Unten rechts stehen Maultiere und Ochsen bereit, um die Früchte zur Kelter zu bringen.

Die Szene mit dem Karren und den Herbstern, wie die Helfer bei der Weinlese früher hießen, vor dem prächtigen Schloss im Hintergrund deutet man schnell als Ins-Bild-Setzen einer idyllischen Erntesituation aus längst vergangenen Zeiten. Romantisch, denkt man, so ganz ohne diese modernen Vollerntemaschinen.

Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass sich das zentral positionierte Fass dieser Deutung entzieht: Denn es erscheint eigentlich wie eine eigene Welt, ein eigener Globus, die angelehnte Leiter wird zur Jakobsleiter, der Leiter, die Erde und Himmel miteinander verbindet und die man auf vielen Gemälden und an Außen- und Innenwänden vieler Klöster und Kirchen des Mittelalters und der frühen Neuzeit findet. Die Weinberge unten verwandeln sich in luftige Wolken oben. Der Winzer im Fass in der beschienen Erdkugel wird zur Christusfigur und die Butten auf den Rücken der Helfer werden zu Engelsflügeln. Dass der Künstler seinem Blatt handschriftlich einen Titel gibt, nämlich Vineyard in Heaven, bestätigt, dass es ihm nicht in erster Linie um stimmungsvolle nostalgische Herbst-Reminiszenzen geht, sondern um eine bildstarke, differenzierte Darstellung der religiös-moralischen Frage, wie die Beziehungen des heutigen Menschen und seines Weinbergs, also der Lebensrealität seiner Gesellschaft, zu dem göttlichen Weinberg aussehen.

Die Exlibris von Konstantin Kalynovych, einem 1959 in Novokusnezk, einer Stadt im südwestlichen Sibirien, geborenen ukrainischen Künstlers, erkennt man meistens auf den ersten Blick. Künstlerisch stechen sie durch ihre technische Perfektion hervor; inhaltlich begegnet man auf ihnen vielen Motiven und Figuren, die einem vertraut sind und die man bei genauerer Betrachtung großen Gemälden der letzten Jahrhunderte zuordnen kann. Man wird an Rembrandt erinnert, an Vermeer, stößt auf Botticellis Venus und Klimts Adele Bloch und viele andere berühmte Ikonen der Kunstgeschichte; dabei kommt es auch zu überraschenden Begegnungen zwischen Figuren unterschiedlicher Zeiten und Kulturen.

Das hier vorgestellte Exlibris des Monats erinnert nicht nur an etwas, sondern scheint geradezu etwas zu kopieren: ein Monatsblatt nämlich aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (Les Très Riches Heures), das der Herzog 1410 in Auftrag gegeben hatte und an dem die drei beauftragten Künstler – die drei Brüder Limburg, denen Kalynovych sein Exlibris auch gewidmet hat – bis zum Tod des Herzogs im Jahr 1416 gearbeitet haben. Die unvollendete und ungebundene Handschrift gelangte an das Haus von Savoyen, wo es von einem anderen Künstler, Jean Colombe, vollendet wurde, um dann jahrhundertelang für spurlos verschwunden zu gelten. Aber das ist nicht das heutige Thema, deswegen nur so viel: Man kann es seit über einem Jahrhundert im Schloss Chantilly betrachten.

 

Wenn man das Exlibris mit seiner wunderbaren Vorlage genauer vergleicht, so fällt auf, dass Kalynovych nur auf den ersten Blick vieles beibehalten hat: das Schloss, die Weinberge, die Traubenlese, der Karren mit den Maultieren, die Personen, die die Trauben versuchen, und viele Details, so die Frau links, die über das beim Bücken entblößte Hinterteil eines erntenden Mannes rechts lachen muss und vieles andere mehr. Aber der zentrale Unterschied ist frappierend: Steht dort das prächtige und glanzvolle Loire-Schloss Saumur im Mittelpunkt, so tritt es ebenso wie der Turnierplatz darunter bei Kalynovych zurück hinter seinem zentralen Motiv über der Himmelsleiter.

Wenn Sie das September-Monatsbild aus dem Stundenbild des Herzogs von Berry mit dem September-Exlibris von Konstantin Kalynovych genauer vergleichen wollen, als es auf diesem engen Raum möglich ist, so finden Sie es wie die anderen 11 Monatsbilder auch bei Wikipedia unter dem Stichwort Les Très Riches Heures abgebildet. Auf der Website des Künstlers können Sie dann auch andere seiner Umdeutungen der mittelalterlichen Monatsbilder betrachten – und ich verspreche Ihnen, dass Sie, wenn Sie sich damit eine verregnete Septemberstunde vertreiben, eine anregende Zeit haben werden, in der Sie ausfallende Kongresse, Regen, Corona und alles andere einmal vergessen.

Ulrike Ladnar

 

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