Exlibris des Monats Juni 2024 – Sidney Hunt: Exlibris für A. Whiteflower

Seltsam zurückhaltend, fast wortkarg ist das World Wide Web, wenn man es nach Informationen zu einem brillanten englischen Grafiker aus den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts befragt, nämlich zu Sidney Hunt. Welchen Hinweis auch immer man aufschlägt, man stößt zunächst auf die Angabe, dass er homosexuell war, dann werden seine Tätigkeiten als Zeichner, Maler, Dichter und Herausgeber betont, woraus man entnehmen kann, dass er künstlerisch vielseitig war. Nur einmal habe ich gelesen, dass er sich auch als Fotograf betätigt hat. Man erfährt, dass er Mitglied in den fortschrittlichsten künstlerischen Vereinigungen der Zwischenkriegszeit war, dass er auch in internationalen modernen Zeitschriften veröffentlicht hat wie, um beispielsweise auf Deutschland einzugehen, dem Querschnitt, einem intellektuell und kulturell anspruchsvollen Zeitgeistmagazin, oder dem expressionistischen Sturm, und dass er das englische Äquivalent zu den kontinentalen avantgardistischen Zeitschriften bzw. Magazinen herausgab, das „RAY“ hieß. Im Jahre 1940 starb Sidney Hunt, während „The Blitz“ – so die englische Bezeichnung der deutschen Luftangriffe – in London tobte, vierundvierzigjährig in seinem Atelier. Viel mehr ist nicht zu finden.

Meine Wahl für den Künstler des Exlibris‘ des Monats Juni ist auf Sidney Hunt gefallen, weil ich daran erinnern wollte, dass bei uns in Deutschland – man mag es kaum glauben – erst vor dreißig Jahren – im Juni 1994 – Homosexualität als Straftatbestand abgeschafft worden ist. Zudem wollte ich schon seit längerem damit beginnen, mich einmal mit dem Künstler Sidney Hunt zu beschäftigen. Ich habe immerhin etliche Exlibris Hunts, die mich immer wieder durch ihre exzellente Komposition, ihre Technik, ihre expressionistische Ausdruckskraft und ihre Eigenwilligkeit begeistern. Schwieriger war die Wahl des konkreten Buchzeichens, da einige der Exlibris von Sidney Hunt aufgrund ihres Balancierens zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit nicht leicht erschließbar sind. Gewählt habe ich schließlich ein Exlibris für A. Whiteflower, da dieses ein auf Exlibris nicht eben seltenes Motiv aufgreift, dessen Kenntnis den Zugang erleichtert. Leider konnte ich bis heute nicht herausfinden, wer A. Whiteflower, also der Eigner oder die Eignerin, war.
Man sieht auf dem Holzschnitt einen nackten jungen Mann, der sich über eine Wasserfläche beugt, aus der ihm sein Gesicht entgegenblickt: Narziss also, Sohn einer Nymphe und des Flussgottes Kephissos. Körper, Arme und Beine des jungen Mannes bilden ein klares Rechteck, dahinter und links davon sind Bäume zu erkennen. An einen Baum gelehnt erblickt man die klagende Nymphe Echo, die wie viele andere – Männer wie Frauen – in Narziss verliebt war, aber nicht von ihm erhört wurde. Ihre Liebe war buchstäblich unsterblich, denn sie klagte und weinte so lange, bis ihr Leib sich auflöste und nur noch der Schall ihrer Stimme zu vernehmen war.
Ein ebenfalls in Narziss verliebter und von diesem verschmähter Mann bat die Nemesis um Hilfe dabei, Narziss für das ihm zugefügte Liebesleid zu bestrafen. Diese belegte Narziss mit dem Fluch, sich unsterblich in sein eigenes Spiegelbild zu verlieben, was auch für Narziss zu unerfüllbaren Liebesgefühlen und Liebesleid führte, denn er konnte sich nicht mehr von seinem eigenen Bild im Wasser des Waldteichs trennen, so dass sein Tod unausweichlich war. Damit der schöne und von so vielen geliebte Jüngling nicht dem Vergessenwerden anheimfiel, verwandelte ihn die Göttin nach seinem Tod in eine Blume, bekanntermaßen eine Narzisse.

Davon ist auf dem Exlibris noch nicht die Rede, wohl aber sieht man den selbstverliebten jungen Mann und dahinter die klagende Nymphe Echo, beide in aus gleicher Ursache rührendem tiefen Leid über die Unerreichbarkeit des Geliebten, beide allein damit.
Das alles gestaltet Hunt mit wenigen, kraftvollen Schnitten und mit expressiver Stärke. Das Licht fällt auf die Vorderseiten der beiden Körper, die Gesichter bleiben dunkel. Doch aus dem Waldteich leuchtet Narziss sein helles Gesicht entgegen, über das er sein dunkles hält und nach dem er mit seinen weißen, sich also im Licht befindenden Fingern greifen will. Fast wirkt es so, als wolle er sich sein Spiegelbildgesicht holen, da sein eigenes so dunkel und wie erstorben im Finstern liegt, als könnte erst das geliebte Gesicht im Wasser ihn wieder zum Leben erwecken.
Die Szene wirkt rätselhaft und  berührt auf eigentümliche Weise.
Man sieht bereits auf diesem frühen Exlibris Hunts, wie herausragend er Körper, vor allem männliche – es gibt auch viele homoerotische Zeichnungen des Künstlers – so darstellt, dass sie zwar fast abstrakt gestaltet sind, oft auch mit kubistischen Stilelementen, dennoch aber konkrete Züge gewinnen, was Hunt gelingt, indem er nicht die gegenständlichen Merkmale darstellt, sondern die erotische Wirkung, die er in diesen Körpern wahrnimmt, zum Ausdruck bringt.
Die einzigen Hinweise zu diesem Exlibris habe ich in einem Aufsatz von Edmond Paul mit dem Titel Sidney Hunt, graveur anglais d‘exlibris (in: l‘ex-libris, revue internationale, No 1, 1re année, Janvier 1929, S. 25) gefunden, die mit den Worten: „Il y a une magie curieuse dans ce dessin“ endet.
Das Exlibris war für Sidney Hunt übrigens keine grafische Nebensache wie für andere große Künstler; neben dem oben angesprochenen Magazin „RAY“ gab er auch ein kleines (im Web nicht erwähntes) Journal mit dem Titel „The Bookplate“ heraus, in dem er zeitgenössische Exlibris vorstellt und kommentiert und auch Beispiele seiner eigenen Kunst präsentiert, ein Exemplar dieses Journals liegt mir vor. In dem oben angeführten Aufsatz führt Edmond Paul viele Zitate an, in denen Sidney Hunt seine künstlerischen Intentionen verdeutlicht. Sie kreisen meist um die Maxime des neuen, modernen Stils, wie z. B. das folgende: „Qu’est-ce que je vaux si je ne peux pas créer quelque chose de nouveau?“ (Was bin ich wert, wenn ich nichts Neues schaffen kann?)

(Ulrike Ladnar)

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