Exlibris des Monats September 2024 – Li Yifang: Exlibris for Peace

Welches Thema das Exlibris für den Monat September des Jahres 2024 haben sollte, wusste ich. Trotzdem dauerte die Suche lange. Schon 2023 habe ich anlässlich des jährlichen Antikriegstags, der am Tag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939 begangen wird, ein Friedensexlibris gewählt. Es war eine Radierung des belgischen Künstlers Louis Titz, in dem er die Zerstörungen und das Leid, das jeder Krieg mit sich bringt, anklagt. Dabei bin ich auch auf den russischen Überfall auf die Ukraine eingegangen. In diesem Jahr, in dem sich der Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs zum 85. Mal jährt, habe ich leider keinerlei Anlass dafür gesehen, ein anderes Motiv zu wählen, denn die Anzahl der Kriege, des politischen Terrors und des Leides und des Tods unschuldiger Menschen durch die Folgen kriegerischer und terroristischer Gewalt hat sich im letzten Jahr sogar erhöht.

Während meiner Suche ist mir in dem Newsletter 407 von Klaus Rödel das Exlibris des jungen chinesischen Künstlers Li Yifang aufgefallen, das mich schon beim ersten Blick darauf sehr beeindruckt hat und das ich immer noch rätselhaft finde, so dass ich noch länger darüber nachdenken werde. Aber dieser Rest von Unsicherheit angesichts der nicht auflösbaren Rätselhaftigkeit von Motiven, Metaphern und Symbolen ist es ja gerade, der erst zur intensiven Auseinandersetzung mit Kunst verführt, so dass man sich immer wieder und immer tiefer in den Deutungs- und Verstehensprozess hineinbegibt.
Li Yifang hat im Wettbewerb der FISAE 2024 in Palma de Mallorca unter 250 Einsendungen den 1. Preis gewonnen. Ich bedanke mich bei den Veranstaltern für die Wahl des Themas, also Exlibris für den Frieden, das leider den Zustand unserer Welt spiegelt, und bei der Jury für die Auswahl des Siegerblattes. Alles, was ich über den chinesischen Künstler Li Yifang weiß, habe ich dem Newsletter Nr. 407 von Klaus Rödel entnommen. Demnach ist er 1996 in der mit knapp 140000 Einwohnern recht kleinen Stadt Lognan geboren. Seine Kunststudien schloss er 2022 ab, hatte aber schon zuvor an zahlreichen Ausstellungen teilgenommen, dabei nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht und bereits einige Preise erhalten. Und jetzt einen besonders wichtigen Preis der FISAE.
Auf Li Yifangs Exlibris nimmt eine Mauer aus Steinen gut ein Siebtel der gesamten Radierung ein. Die Mauer ist aus annähernd gleich hohen Quadern gebaut, allerdings zeigen sich einige Zeichen geringer Sorgfalt bei ihrer Errichtung, z. B. unterschiedliche Längen der Steine, so dass der Bildausschnitt auf den einzelnen Mauerreihen zwischen drei und fünf Steinen erscheinen lässt. Die Mauerreihen weisen die alte Technik einer Trockenmauer ohne weitere Hilfsmittel nur durch das der Stabilisierung dienende Einfügen kleinerer Steine in entsprechende Lücken auf. Die Mauer scheint Schäden erlitten zu haben, man kann nur vermuten, dass irgendwelche Geschosse gegen sie gerichtet worden sind, seien es Steine oder Farbbeutel oder Pistolenkugeln oder andere Kriegswaffen. Bislang konnte der Mauer aber außer Spuren durch den Aufprall der Geschosse und kleinere Steinschäden, die durch heruntergefallene kleine Steine rechts sichtbar werden, nichts angetan wenden. Aber offensichtlich ist, dass versucht wurde, die Mauer wo nicht zu zerstören, so doch mindestens zu beschädigen, um sie durchgängig zu machen.
Was hinter der Mauer liegt, bleibt buchstäblich im Finstern. Auf den ersten Blick, der so oft trügerisch ist, sieht es aus, als befänden sich kleine saubere Häuschen dahinter. Erst wenn man die vermeintlichen Dächer und die Räder darüber vergrößert, sieht man, dass dort oben Gleise sind, über die (zerstörende?) Räder rollen.
Unter der Mauer kauern zwei Menschen, ein nackter Mann, der auf seinen Schultern die Last der Mauer zu tragen scheint, beugen sich doch über seinem Rücken die Mauersteine, die er zu tragen scheint. Auf seinen Knien ruht ein Kind, das erschöpft zu schlafen scheint, das er zu schützen versucht. Der Mann blickt nicht auf, er kann nicht aufstehen, weil sonst vielleicht die Mauer über ihm und dem Kind zusammenstürzen und beide unter sich begraben würde – und auch all das, was sich vielleicht noch hinter der Mauer befindet und noch Atem hat, um zu leben.
Bei der großen Affinität der Exlibrissammler und Exlibrissammlerinnen zu mythologischen Themen neigt man angesichts eines nackten Mannes und eines oder mehrerer Steine sofort dazu, über den Stein des Sisyphus oder über Atlas, den Titan, der das westliche Himmelsgewölbe stützen musste, nachzudenken – beide übrigens hatten ihre Aufgabe als Strafe von Zeus erhalten.
Nun bin ich aber sicher, dass es in anderen Kulturen andere Mythen gibt und dass dort andere Geschichten erzählt werden, die ich aber nicht kenne. Deswegen nähere ich mich dem Blatt von Li Yifang anders, gehe nur von dem aus, was zu sehen ist. Und was man sieht, ist eine Mauer, die die beiden Personen auf dem untersten Bildabschnitt von allem anderen trennt, wobei man nicht einmal weiß, was das andere ist. Sind es Menschen? Sind es Orte? Gibt es Kleidung dort? Brot? Liebe? Familie? Sicherheit? Geborgenheit? Oder gab es das dort einst? Und gab es das auf dieser Seite der Mauer, auf der der Mann und das Kind sich bewegen, auch?
Auf jeden Fall ist die Funktion einer Mauer tatsächlich die des Schutzes zwischen einem Dort und einem Hier, zwischen denen, die innerhalb der Mauern wohnen und denen, denen der Zutritt dorthin verwehrt werden soll. Man muss nur an die Stadtmauern, die früher Burgen und Schlösser und unsere Städte umgaben, denken. Heute werden sie von Touristen und Touristinnen besucht und bieten malerische Fotomotive. Das gilt auch für die Chinesische Mauer mit ihren über 21000 Kilometern Länge, die bereits während der Ming-Dynastie entstanden ist und der Grenzsicherung diente. Wir in Deutschland werden am ehesten an die Berliner Mauer denken, die von 1961 bis 1989 West-Berlin umschloss und die Stadt teilte. Auch sie immerhin gut 150 Kilometer lang. Ihre Funktion galt der umgekehrten Richtung: denen, die innen lebten, zu verwehren, in das Außen zu kommen.
Auch heute entstehen an sehr vielen Orten Mauern, architektonische Ambitionen gibt es dabei nicht mehr wie bei unseren mittelalterlichen Anlagen. Die Mauern sperren ein oder aus, werden meistens schnell errichtet, als Zaunanlagen oder Sperranlagen. Wir alle können viele Beispiele anführen, sei es die sog. Tortilla Wall zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, seien es die Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland oder der Grenzzaun nach Melilla u. v. a. m.
Auf der Radierung wird die konkrete Situation nicht weiter erläutert, aber die Mauer zeigt, wie unüberwindbar der Weg durch die Mauer, also der Aufbruch durch die Mauer, ist. Ob es Kriege sind, die zu diesen Mauern geführt haben, ob es die Flucht vor Tod oder Hunger ist, das alles erfährt man nicht. Aber Li Yifang geht in seiner Beschreibung der existentiellen Not dessen, der nicht durch die Mauer gelangt, noch einen Schritt weiter. Die psychische Last, die auf demjenigen liegt, der die Mauer nicht überwindet, drückt ihm einen Stempel auf – nur so sind die unteren, nicht mehr geraden Mauerreihen zu erklären – und liegt so schwer auf seiner Seele, dass man ihn und das Kind daran zerbrechen sieht.
Angesichts der Qualität dieses Siegerexlibris‘ können sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kongresses auf eine künstlerisch hochwertige Ausstellung freuen und darauf, dass sie so vielen Menschen aus vielen Ländern begegnen und sich mit ihnen austauschen können.

(Ulrike Ladnar)

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