Auf den ersten Blick sehen wir ein eisernes, sechseckiges Zwinginstument, das eine mittelalterliche Burganlage einrahmt. Eigentlich kein rühmliches Entree, denkt man doch sofort an mittelalterliche Folter und Grausamkeiten. Zudem verweigert die Burg dem Betrachter den Zugang – kein Tor lädt zum Eintritt, stattdessen verbirgt sich selbst die Kapelle, die in ihrer wahren Existenz als Kapelle der Versöhnung gedacht ist, hinter hohen Mauern und verspricht weder ein Willkommen noch ein Gebet.
Der Blickwinkel scheint nicht von ungefähr, wie sich herausstellen wird.
Hinter dem Ensemble verbirgt sich die Geschichte des Ritters Lambert von Oer (1440 -1522), dem im Laufe einer langjährigen Fehde, in der es um Ansprüche auf Ländereien ging, im hohen Alter von achtzig Jahren von seinem Widersacher eben jenes Schmuckstück mit vier innenliegenden eisernen Dornen umgelegt wurde, auf dass er einen Überlassungsvertrag für die Ländereien unterschreibe. Wie schmerzhaft! Lambert trotzte diesem grausamen An-sinnen auf seine Weise und konnte das eiserne Folterinstrument wieder loswerden. Das war im Jahr 1520. Seitdem ist die Geschichte dieses Mannes mit seiner Wohnstatt, der Wasserburg Kakesbeck im münsterländischen Ort Lüdinghausen, eng verbunden.
Zunehmend verfiel die Burg im Lauf der folgenden Jahrhunderte, bis sie schließlich etwa 500 Jahre später einen neuen Besitzer fand, der sich vollends der Restaurierung hingab und – ganz beiläufig – unseren Künstler „aufsammelte“, weil er einen Maler brauchte. Hier schließt sich der Kreis und eine erste Antwort auf die Wahl des Motives ist gefunden. Die Vorder-gründigste und vorerst Überzeugendste aller Antworten lautet: Der Künstler möchte seine enge Verbundenheit zur Burg Kakesbeck zum Ausdruck bringen, die nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten währt, während ihm die Burg ein zweites Zuhause ist und er sich sehr für deren Weiterentwicklung engagiert.
Jetzt wäre das ein für Außenstehende recht mäßiges Sujet, eine in Teilen überformte mittelalterliche Burganlage in Privatbesitz, dargestellt in Form einer Radierung, gäbe es da – ganz im Sinne des zuweilen ironisch kommentierenden Künstlers – nicht weitere Ebenen der Betrachtung, die zu beleuchten es sich lohnt, wenn dann am Ende die Deutsche Exlibris-Gesellschaft in den Blick gerät.
Ex Libris – Ex Castro. Torquis ex castro. Die Miniatur „aus den Büchern“ – „das Halsband aus der Burg“. Wie passend. Da ist ein tieferer Blick angebracht und lohnenswert.
Das eiserne Halsband ist nicht als Teil der Burg dargestellt, sondern hält die Burg gewisser-maßen in Schach, überdimensional und bedrohlich. Es gibt kein Entrinnen. Kein Außen, keinen Ausgang, der Schließmechanismus des Instruments verborgen und nicht zu öffnen von irgendjemandem. Geheim halt. Der Künstler nimmt die Außenperspektive ein, doch wohl eher für den Betrachter, der für gewöhnlich keinen Zugang hat. Er selbst pendelt zwischen der Innen- und Außenwelt und kann sich verschiedene Blickwinkel erlauben. Hier zeigt er sich frei von den Zwängen des Halsbands, wähnt sich außen in Sicherheit, der Schlüssel-lochblick kommt einem da dennoch nicht von ungefähr in den Sinn. Wer blickt hier wohin?
Eine zweite Leidenschaft des Künstlers ist die Deutsche Exlibris-Gesellschaft, was zur im Titel angesprochenen Parabel führt. Andreas Raub überführt das Motiv der Burg Kakesbeck mit der ihm eigenen Skepsis in die Zirkel der DEG, in eine Institution seiner zweiten bedrohten Leidenschaft – oder doch ersten?
Das Zwinginstrument hält in seinen Augen die Gesellschaft in Schach, zeigt im Innern den schwächer werdenden Charakter einer Feste, die darum ringt, dem Verfall der Jahre zu entgehen und das Halsband zu sprengen. So kennt ihn der Verfasser: Er bildet nicht das Tor ab, weil er es nicht sieht. Ex Castro – aus der Burg heraus in die Welt. Ex Libris – quo vadis?
Die Vielschichtigkeit dieser Radierung fasziniert in mehrfacher Hinsicht. Zum einen zeigt sich hier ein großartiger Radierer von seiner persönlichen Seite, was seine Bedenken hinsichtlich der Entwicklung der Burg Kakesbeck angeht, deren Stiftungskuratorium er wie auch der Verfasser dieser Zeilen angehört, zum anderen trifft er mit dieser feinen Arbeit den Nerv der einen seiner seiner großen Leidenschaften. Hier verdeutlicht sich die Liebe zum Metier, zur Burg Kakesbeck und zur DEG gleichermaßen, auf siebenundachtzig Quadratzentimetern.
Was bleibt?
„Das Bleibende stiften die Dichter“, heißt es bekanntlich allenthalben. In meinen Augen stiftet Andreas Raub hier Bleibendes, verbunden mit der Mahnung, Altbewährtes und Wertvolles nicht leichtfertig aufzugeben, erst recht nicht einer Schlüssellochperspektive feilzubieten, von der aus man später leicht eine Haltung zu rechtfertigen im Stande ist, die da lautet: „Das eiserne Halsband hatte uns im Griff.“
Es gilt, den Schließmechanismus zu finden und zu öffnen. Lambert von Oer hat schon vor mehr als 500 Jahren eine Lösung gefunden – wenn auch eher unkonventionell und ohne Schlüssel.
Peter Barth
(gemeinsam mit Andreas Raub Kuratoriumsmitglied der
Stiftung Dr. Wilfried und Hildegard Grewing – Burg Kakesbeck)